Wie der frühere Trigema-Chef Wolfgang Grupp leiden viele Menschen unter Altersdepressionen. Ein Stuttgarter Experte erklärt, wie man Symptome erkennt – und vorbeugen kann.
Depressionen werden bei älteren Menschen oft falsch gedeutet oder übersehen. Die Dunkelziffer ist somit hoch. Kürzlich hat der frühere Trigema-Chef Wolfgang Grupp (83) aus Burladingen einen Suizidversuch wegen Altersdepression bekannt gegeben. Wir haben uns mit Kai-Steffen Gabor, Ärztlicher Leiter der Neurologie am Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart, unterhalten. Der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Geriatrie erklärt, wie man depressive Zustände erkennt – und was hilft.
Herr Gabor, was versteht man unter einer Altersdepression?
Eigentlich ist der Begriff medizinisch gesehen unglücklich. Ob eine Depression einen in jungen Jahren oder im Alter ereilt: Die Grundsymptome sind ähnlich. Eine Depression unterscheidet sich neurobiologisch nicht grundsätzlich. Man sollte daher eher von einer Depression im Alter sprechen. Deutliche Unterschiede finden sich allerdings in den psychosozialen Faktoren. Öfter spielt auch die Interaktion mit körperlichen Aspekten eine Rolle. In der Geriatrie ist dies ein wichtiges Thema.
Wie meinen Sie das?
Im Alter werden wir oft empfindsamer, verletzlicher. Unsere Kräfte schwinden – physisch wie psychisch. Wir sind dadurch nicht mehr so belastbar, können Stress weniger gut verarbeiten, fühlen uns leichter überfordert und werden dadurch auch anfälliger. Dazu kommt, dass durch den Eintritt in die Rente oft ein Gefühl der Leere oder gar der Nutzlosigkeit entsteht.
Der Ruhestand ist eine Zäsur.
Auf jeden Fall. Man hat plötzlich viel Zeit, mit der so mancher nichts anzufangen weiß. Was noch schwerer wiegt: Man verliert nicht nur das berufliche Umfeld und die Kollegen, sondern auch seine bisherige Rolle. Das Selbstbild, das tief in einem verankert war, kann dann schwer angeschlagen sein. Oft entwickelt sich daraus eine innere Leere, man fühlt sich nutz- und wertlos. Hinzu können generell zahlreiche Verlusterlebnisse kommen – durch den Tod des Partners und von Freunden, Familienangehörigen, Nachbarn. Das führt oft zu tiefer Trauer, die ebenfalls in eine Depression übergehen kann.
Ältere sind häufig auch einsam.
Soziale Isolation, also der Verlust oder Rückzug von Aktivitäten und Kontakten, kann Gefühle wie Freudlosigkeit, Antriebslosigkeit und Hoffnungslosigkeit verstärken. Statt Schönes zu erleben und zu genießen, steigert man sich unter Umständen in negative Gefühle hinein – teilweise so weit, dass man denkt, das Leben sei sinnlos geworden. Dazu können auch Zukunftsängste kommen: Verarme ich? Werde ich womöglich bald schwer krank und gebrechlich? Was, wenn ich mal nicht mehr selbstständig leben kann?
Trifft das Menschen wie den Unternehmer Wolfgang Grupp, die bis dahin viel gestaltet und bewirkt haben, vielleicht noch härter?
Zumindest merken auch sie häufig, dass ihr Horizont inhaltlich und zeitlich endlich ist. Man sollte sich daher zum einen nicht zu sehr auf einen Lebensbereich wie den Beruf konzentrieren. Und zum anderen ist es sicher sinnvoll, sich frühzeitig mit dem Thema Alter zu beschäftigen. Man muss sich innerlich darauf einstellen, dass sich in dieser Zeit das Leben verändert.
Sind manche Menschen anfälliger für Depressionen?
Genetische Veranlagung kann eine Rolle spielen. Und wer bereits eine depressive Phase hatte, ist gefährdeter, erneut in diesen Zustand zu rutschen. Es gibt aber auch Menschen, die erst im Alter depressiv werden. Erschwerend kommen im Einzelfall auch zeitgleich nachlassende kognitive Fertigkeiten hinzu.
Woran erkennt man eine Depression im Alter?
Das ist oft nicht so einfach. Die Dunkelziffer ist somit hoch. Bei Älteren wird die Erkrankung oft übersehen. Denn häufig treten Symptome auf, die auch organische Ursachen haben können – Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Schwindel und Gangunsicherheit etwa, Schlafstörungen und Konzentrationsprobleme. Das verbindet man alles ohnehin mit dem Älterwerden. Auch Durchblutungsstörungen oder eine einsetzende dementielle Entwicklung kann zu Verwirrtheit, Orientierungslosigkeit, Verlorenheit und auch zu Wahnvorstellungen führen. Man muss also ganz genau hinschauen. Wer im persönlichen Umfeld Veränderungen bemerkt, sollte einfühlsam nachfassen, etwa fragen: „Ich habe das Gefühl, dass dir gerade ein bisschen der Schwung fehlt. Woran könnte das liegen? Wie könnten wir das eventuell ändern?“ Eine der wichtigsten ersten Anlaufstationen sind aber die Hausärzte. Es gibt zum Beispiel auch orientierende Kurztests in Form von Fragebögen.
Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Zunächst in aller Regel wie bei jeder Depression: eine Kombination aus Medikamenten und Psychotherapie. Letztere ist bei Älteren meist die bessere Wahl. Zum einen, weil sie bei der Mitarbeit oft motivierter sind, was sich unter anderem daran zeigt, dass sie ihre Therapie seltener abbrechen. Zum anderen ist der Stoffwechsel im Alter anders, und man nimmt meist wegen verschiedener Erkrankungen ohnehin Medikamente – in beiden Fällen kann es zu unangenehmen Nebenwirkungen kommen. Ergänzen kann man etwa mit Lichttherapie, Ergotherapie und Bewegung.
Depressionen sind noch immer ein Tabuthema.
Ja, vor allem in der älteren Generation. Dennoch ist es oft so, dass sich jüngere Menschen schlechter psychische Probleme selbst eingestehen können. Und generell hat sich in den letzten Jahrzehnten auch durch Aufklärung einiges verbessert. Immer mehr Menschen wissen, dass Depression eine Krankheit ist – und kein Versagen.
Wie kann man vorbeugen?
Bewegung in jeder Form, von Körper und Geist, ist eine gute Vorbeugung und Therapie. Man sollte aktiv bleiben, am Leben teilhaben. Denn das Zusammenspiel zwischen Geist und Körper ist wichtig. Hier sind auch Alten- und Pflegeheime gefordert, denn dort rutschen viele mangels geeigneter Aktivitäten und sozialen Kontakten in Depressionen ab. Zudem sollte man sich wie gesagt rechtzeitig aufs Älterwerden vorbereiten. Schön wäre es, wenn wir als Gesellschaft unseren Umgang mit alten Menschen weiter verbessern – ihnen also mit mehr Verständnis, Geduld und Wertschätzung begegnen würden. Wir werden schließlich alle mal alt.
Sie haben suizidale Gedanken? Hilfe bietet die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222 und unter https://ts-im-internet.de/ erreichbar. Eine Liste mit Hilfsangeboten findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention: https://www.suizidprophylaxe.de/