Grünen-Fraktionschefin Rebecca Harms kritisiert Merkels Schlingerkurs bei der Kür eines neuen Kommissionspräsidenten. Foto: dpa

Die Grünen-Europaabgeordnete Rebecca Harms kritisiert den Umgang der Kanzlerin und CDU-Chefin mit dem Spitzenkandidaten der Christdemokraten, Jean-Claude Juncker. Das Geschacher um den Posten des Kommissionspräsidenten vergrößere die Kluft zwischen Wählern und Politikern.

Die Grünen-Europaabgeordnete Rebecca Harms kritisiert den Umgang der Kanzlerin und CDU-Chefin mit dem Spitzenkandidaten der Christdemokraten, Jean-Claude Juncker. Das Geschacher um den Posten des Kommissionspräsidenten vergrößere die Kluft zwischen Wählern und Politikern.

Stuttgart – Frau Harms, wer die Europawahl gewinnt, wird Chef der EU-Kommission. So wurde es vor der Wahl den Wählern glauben gemacht. Jetzt will offenbar niemand mehr etwas davon wissen. Haben Sie Verständnis dafür, dass sich immer mehr Menschen enttäuscht von der Politik abwenden?
Die Mehrheit der Fraktionsvorsitzenden im EU-Parlament hat sich auch nach der Wahl klar zu dem verabredeten Verfahren bekannt. Statt sich abzuwenden, sollten die Bürger also Klartext mit Frau Merkel reden und ihr klarmachen, dass Juncker, also der konservative Kandidat, derjenige ist, der vom Europäischen Parlament aufgefordert worden ist, sich eine Mehrheit zu suchen.
Das Gezerre um den Posten des Kommissionspräsidenten zeigt das ganze Dilemma der EU. Es ist unmöglich, 28 nationale Interessen unter einen Hut zu bekommen. Am Ende wird immer parteipolitisch und national statt europäisch gedacht.
Die fünf Fraktionsvorsitzenden haben sich alle dazu bekannt, dass der Spitzenkandidat, der die größte Fraktion hinter sich gebracht hat, jetzt als Erster versuchen soll, eine Mehrheit für sich zu bekommen. Für uns gilt das vorher Versprochene auch nach der Wahl. Es ist bedauerlich, dass Frau Merkel durch ihr Zögern den Eindruck vermittelt, dass sie eher EU-Kritikern wie dem britischen Premierminister David Cameron oder dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban entgegenkommen will als dem Parlament.
Wer hat denn nun das Sagen bei der Berufung des nächsten EU-Kommissionspräsidenten: das Europaparlament oder der Europarat der Staats- und Regierungschefs aus den 28 Mitgliedsländern?
Das Parlament muss den neuen Kommissionspräsident wählen, daran führt kein Weg vorbei. Das Vorgehen Merkels ist ein Zeichen von fehlendem Respekt gegenüber der Ernsthaftigkeit des Europäischen Parlaments. Wir wollen, dass der Kommissionspräsident dem Parlament und den Bürgern mindestens genauso verpflichtet ist wie dem Rat. Wir haben uns nicht aus Jux und Tollerei dafür eingesetzt, dass die Politik in der EU mit den EU-weiten Spitzenkandidaten Gesichter bekommt.
Aber das Gesicht von Juncker gefällt einigen offenbar nicht.
Das Parlament erwartet, dass einer der Spitzenkandidaten das Amt des Kommissionspräsidenten übernimmt. Das kann nach dem Wahlergebnis zunächst nur Jean-Claude Juncker sein. Dieses Vorgehen wird inzwischen sogar von SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz unterstützt. Durch die Personalisierung der Wahl wollen wir den Graben zwischen den Wählern und den europäischen Politikern verkleinern.
Durch die derzeitigen Grabenkämpfe wird die Kluft aber eher größer.
Frau Merkel hat sich vor der Wahl zum Prinzip des Spitzenkandidaten bekannt, wenn auch widerstrebend. Sie bringt sich jetzt in Widerspruch mit ihrer Partei und ihrer Fraktion im EU-Parlament. Ich frage mich, was Merkel jetzt gegen einen Kommissionspräsidenten Juncker hat, der handverlesen wurde innerhalb der Europäischen Volkspartei und ihre volle Rückendeckung hatte. Ob wir Grüne am Ende für Juncker stimmen, entscheiden wir allerdings erst nach einer Anhörung mit ihm in unserer Fraktion. Das machen wir von Inhalten abhängig.
Würden Sie für Juncker stimmen, auch mit dem Risiko, dass Großbritannien der EU den Rücken kehrt?
Die Briten müssen endlich klären, was sie wollen. Zu ihrem eigenen Wohl sollten sie in der EU bleiben. Aber es geht so nicht weiter, dass Cameron in entscheidenden Fragen immer mit dem Austritt droht und versucht, seine Kollegen zu erpressen. Mit diesem antieuropäischen Kurs hat er bisher lediglich erreicht, das die rechtspopulistische Ukip immer stärker geworden ist.
Zerbricht an der Frage des Kommissionspräsidenten die Große Koalition in Deutschland?
Das haben die Koalitionäre in der Hand. Es ist allerdings irre, dass die Große Koalition in Brüssel zwischen Schulz und Juncker jetzt der Großen Koalition in Berlin nicht genehm ist. Manchmal fragt man sich, ob es Merkel insgeheim gar nicht um Juncker, sondern um ihren Parteifreund Günther Oettinger geht und um die Sicherung seines Postens als EU-Kommissar.