Asien ist der Markt und das Machtzentrum der Zukunft, Europa wird abgehängt. Für die Trendforscher ist diese Erkenntnis kalter Kaffee. Der Stuttgarter Trendbeobachter Mathias Haas ist dennoch nach Asien gereist. In fünf Megacitys hat er sich auf die Suche nach neuen Megatrends gemacht.
Stuttgart - Manchmal reichen schon ein kurzer Augenblick und genaues Hinschauen, um mögliche Megatrends zu erkennen. Auf seiner fünfwöchigen Reise durch fünf Zehn-Millionen-Metropolen in Indien, Singapur, Indonesien, China und Südkorea hat Mathias Haas viele solcher Augenblicke der Erkenntnis gehabt.
Besonders eindrucksvoll war für ihn eine Straßenszene in Delhi. In der indischen Hauptstadt beobachtet er einen Bettlerjungen, der freudestrahlend zu seiner Mutter rennt, die mit den kleineren Geschwistern am Straßenrand bettelt. In der Hand hält er die Tüte mit einem Hamburger, den er soeben im Restaurant einer US-Kette gekauft hat. Hamburger kosten in Delhi 30 Rupien, umgerechnet 33 Euro-Cent. Was billig klingt, ist eigentlich teuer. Kostet doch ein Essen in einer Garküche nur zehn Rupien.
„Warum bezahlt ein Bettlerjunge für einen Hamburger den Gegenwert von drei Mahlzeiten und ist glücklich“, fragt Mathias Haas. Das bleibt auf seiner Asienreise nicht die einzige Frage. Warum rauchen im indonesischen Jakarta 70 Prozent der Männer? Warum kauft der wohlgenährte Mittelstand in Guangzhou in China westliche Nahrungsergänzungsmittel? Warum ist das iPhone in Delhi zehn Prozent teurer als in westlichen Großstädten? Warum geben ehrgeizige Koreaner bis zu 30 Prozent ihres Einkommens für die Ausbildung ihrer Kinder aus?
„Die städtische Armut wächst, sie ist ein Megatrend“
Fragen über Fragen. Antworten fand der 41-jährige Haas bei Interviews mit 33 Gesprächspartnern in fünf Ländern, denen er zehn Fragen stellte. Wie wird der Job des Befragten in fünf Jahren aussehen? Was sind die größten Hoffnungen an die Zukunft? Was sind die Wünsche für die eigenen Kinder? Was ist im täglichen Leben der größte Stressfaktor?
Das Spektrum der Gesprächspartner sollte möglichst breit sein. Es reichte vom Unternehmer und der Architektin in Seoul, vom Taxifahrer und vom Journalisten in Delhi bis zur Näherin und zum Multimillionär in China. „All diese Menschen haben deutlich mehr Wandel durchlebt als wir“, sagt Haas. „Die Auswahl war nicht repräsentativ, aber aufschlussreich.“ Zeichnen die Antworten doch ein Bild von Asien, das so glänzend wie verstörend, so klar wie undurchschaubar ist.
Eine Entwicklung konnte Haas in jeder der fünf besuchten Riesenstädte beobachten. „Die städtische Armut wächst, sie ist ein Megatrend.“ Betroffen sind nicht nur die Bettler in Delhi oder die Müllmenschen in Jakarta, die vom Aufstieg nur träumen können. Selbst im wohlhabenden und ordentlichen Singapur können sich die vermeintlichen Aufsteiger nie sicher sein, nicht wieder abzustürzen. „Im Alter 300 Dollar für die Krankenversicherung zu bezahlen ist für mich unmöglich“, sagt ein Taxifahrer. „Ich habe mit meiner Frau gesprochen. Möglicherweise machen wir zuvor Selbstmord.“
Asiaten voller Optimismus und Aufbruchsstimmung
Auf eine Angst ganz anderer Art trifft Haas in Südkorea. „Rein statistisch hatten wir alle 35 Jahre Krieg“, berichtet ihm ein Gesprächspartner, „inzwischen haben wir 50 Jahre Frieden.“
Doch der allgegenwärtigen Sorge hierzulande, die als „German Angst“ weltweit zum Begriff wurde, begegnet Haas in Asien selten. Im Gegenteil: Dort herrschen Optimismus und Aufbruchstimmung. So will der Selfmade-Millionär aus Südkorea mit seiner Reifenproduktion weltweit expandieren. Auch die Näherin in China will nach oben und tut alles dafür, einen Job in einem modernen Büro zu ergattern. „Wir arbeiten sieben Tage die Woche, zwölf Stunden am Tag“, sagt der indische Anwalt. „Die Qualität der Arbeit ist der entscheidende Punkt.“
Auf der Fleiß-Skala stehen die Südkoreaner mit 2400 Arbeitsstunden im Jahr weit oben. In Deutschland sind es 1600 Stunden. „Wir erleben in Südkorea eine völlige Ökonomisierung des Lebens“, berichtet ein deutscher Manager, der in Seoul lebt. Die Menschen seien wie unermüdliche Ameisen. Dieser Wettlauf hat Folgen. Selbstmorde sind extrem häufig. In Seoul sind die Bahnsteige der U-Bahn abgeschrankt. Geöffnet werden sie erst, wenn der Zug steht. Unter den drei wichtigsten Gründen bei der Wahl des Ehepartners sieht der deutsche Manager bei den Koreanern folgende Reihenfolge: „Das Wichtigste ist das Gehalt des Partners, an zweiter Stelle kommen seine Aufstiegschancen, erst dann kommt die Liebe.“ Ungebrochen sieht der Manager die Faszination der Koreaner für westlichen Lifestyle. „Interessant aber wird es erst, wenn die Koreaner weniger arbeiten und damit Zeit gewinnen, selbst kreativ zu werden.“
Einen weiteren wichtigen Trend sieht Haas im Abkürzen von Entwicklungen. So gibt es in vielen Ländern Asiens kaum ausgebaute Kabelfestnetze. Dafür sind die Funknetze viel enger und leistungsfähiger gespannt. Als Vorbild nennt Haas da Seoul. Doch die Handy-Manie ist auch andernorts groß. Sogar in Delhi beobachtete er eine höhere Handy-Dichte als bei uns. „Selbst die ganz Armen leisten sich das.“
Ein-Kind-Politik in China macht „das Land eher alt als reich“
Die neuen Entwicklungen, die der Trendbeobachter in China festgestellt hat, sind so neu nicht. Die Armutsschere zwischen Land und Stadt öffnet sich weiter. Einfache Tätigkeiten wandern in ärmere Nachbarstaaten ab. Umgekehrt bringt das enorme Wirtschaftswachstum zunehmend Probleme. Am neuen, hochgelobten Opernhaus in Guangzhou stellte Haas Baumängel fest, die ihn an den neuen Flughafen in Berlin erinnerten. Seine Hauptprognose für China lautet: Als Folge der Ein-Kind-Politik „wird das Land eher alt als reich“.
Jung seien und immer jünger würden dagegen Indien und Indonesien. Gebremst werde die Entwicklung dort aber durch Korruption und ethnisch-religiöse Konflikte.
Trotz all dieser widersprüchlichen Beobachtungen glaubt Haas, dass die Zukunft auch weiterhin Asien gehört, „allein schon wegen der Größe der Märkte“. Seine Empfehlung: Die Deutschen müssten wieder hungriger werden und mutiger sein. „Wir sind zu satt.“
Mit seinen Beobachtungen, Prognosen und Ratschlägen verdient Haas sein Geld als Redner und Coach bei deutschen Firmen. „Ich will dabei niemandem Angst machen“, sagt der Trendbeobachter. „Ich hätte aber gern, dass meine Zuhörer anschließend eine Nacht lang aufgewühlt sind, damit sie in Zukunft besser schlafen können.“