Anja Schneider als Lehrerin Inge Lohmark Foto: Bettina Stöß

Eine Darwinistin zeigt Schwäche: Warum Judith Schalanskys Erfolgsroman „Der Hals der Giraffe“ in Armin Petras’ Inszenierung im Nord ein tolles Schauspielfest ist.

Stuttgart - Eine Frau steht vor einer Pressholzwand und spricht über ihre Jugend. Über Gewichtsprobleme, Freunde. Und eben über Jeans, die sie unbedingt haben musste, um akzeptiert zu werden. Inzwischen kommt sie offensichtlich auch ohne ein bestimmtes Stück Stoff gut durchs Leben. Zumindest trennte sie sich von dem guten Stück: Jetzt bereichert also eine Jeans die „Erinnerungsskulptur“, eine Holzwand, die im Rahmen des Nordlabors „Abschied von gestern“ in der Stuttgarter Spielstätte Nord zu besichtigen ist. Wer mag, darf dort Dinge deponieren, von denen er sich trennen will. Schlange stehen musste man nicht, nach dem trubelig erfolgreichen Eröffnungswochenende des Labors ging es am 14. Januar ruhiger zu.

Irgendwo dazugehören zu wollen war nie Inge Lohmarks Ziel. Inge Lohmark ist Biologielehrerin in Judith Schalanskys Erfolgsroman „Der Hals der Giraffe“, der als Theaterstück nach der „Erinnerungsskulptur“ zur Aufführung kam. Dass Lohmarks Kollegen sich über ihren „kreidelastigen Frontalunterricht“ mokieren, stört sie wenig. Im Gegenteil – für Stuhlkreise und Liebhab-Pädagogik hat sie nichts übrig. Auch für die Schüler findet sie hämische Kommentare.

Glanzleistungen von den Schauspielerinnen

„Von wegen Zukunft“, grantelt Lohmark, „diese Kinder hier kamen ihr wirklich nicht vor wie Diamanten auf der Krone der Evolution. Entwicklung war etwas anderes als Wachstum.“ So darwinistisch, so gut, doch dann geschieht etwas Merkwürdiges – die Wissenschaftlerin zeigt Schwäche.

Armin Petras hatte den Roman bereits zum Finale seiner Intendanz am Berliner Gorki-Theater auf die Bühne gebracht und nun für das Labor im Nord neu inszeniert; man wünscht dem Abend mit den Grandiosschauspielerinnen Anja Schneider und Svenja Liesau ein Bestehen auch über die Labor-Wochen hinaus.

Anja Schneider – züchtig knielanger Rock, Strickjacke, altmodische Brille – blickt abschätzend in die Runde. Das auf harten Bänken sitzende Publikum wird zur neunten Klasse – der letzte Jahrgang, der noch zum Abitur geführt wird, bevor das Gymnasium schließt, denn das Kaff ist von akuter Landflucht betroffen. „Klasse neun. Die Natur war nicht gerade schön anzuschauen auf dieser unentschiedenen Schwelle zwischen Kindheit und Adoleszenz“, sagt Anja Schneider, strenger Ton, hochmütige Miene, und steigert sich in ihren Zynismus hinein: „Jetzt kam die schlimme Zeit, das Lüften der Klassenzimmer gegen den Geruch dieser Altersstufe, Moschus und freigesetzte Pheromone, talgige Haut, matte Augen, das unaufhaltsame Wachsen und Wuchern“, um mit hochkomischem Seufzer zu enden: „Es war sehr viel einfacher, ihnen etwas beizubringen, bevor sie geschlechtsreif waren.“

Lehrerin Inge Lohmark bekommt Gefühle für eine Schülerin

Die Inszenierung schwankt fein zwischen hochkomisch und todbetrübt. Er lebt von Schalanskys Sprachstärke und braucht nichts außer einer nackten Bühne mit Treppen, einer Schultafel, einer Videowand (Klassenzimmer und von Gott und der Welt verlassene Wiesen) sowie einer Trillerpfeife. Denn Inge Lohmark ist Biologielehrerin, und sie drillt auch die Mädchen im Sport. Jetzt kommt Svenja Liesau hinzu – roter Strickpulli, schlecht sitzende Turnhosen – und zieht die misslaunige Schnute, die Lehrer gemeinhin zur Verzweiflung treibt. Im Zeitlupentempo trabt sie über ein Springseil, verdreht empört die Augen, als sie mehrere Runden im Kreis laufen soll.

Dennoch hat die Göre es der Lehrerin angetan. Vielleicht weil die sie an ihre Tochter erinnert. Die lebt am anderen Ende der Welt , meldet sich bei der Mutter kaum mehr und verkündet in einer lapidaren „Just married“-Mail, dass sie nun verheiratet ist. Frau Lohmarks darwinistisches Weltbild wankt jedenfalls, sie bekommt Gefühle. Svenja Liesaus Schülerin blickt irritiert, was Anja Schneider Gelegenheiten verschafft, verdruckst freundlich, sich selbst fragend, was sie da tut, auf das Mädchen zuzugehen.

Charmanter Höhepunkt des einstündigen Abends ist eine gemeinsame Autofahrt, die die Schauspielerinnen erst pantomimisch interpretieren – imaginäre Fenster herunterkurbeln, Handschuhfächer aufklappen –, dann die Gedanken der jeweils anderen aussprechen. Peinlich berührte Seitenblicke, fahrige Bewegungen inklusive.

Schön, wie der Abend eher beiläufig vom Abschied von verkrusteten Ansichten, von schmerzvollen Veränderungen erzählt und doch die Frage nicht beantwortet, ob ein Neuanfang wirklich glücklich macht.

Info

Programm Nord-Labor „Abschied von gestern“, Löwentorstraße 68

„Nach Norden!“: Treffpunkt für den Spaziergang zur Spielstätte Nord: 16.1, 17 Uhr am Schauspielhaus.

„Quite likely, – I forget“: 16.1. um 18 Uhr im Nord: Performance zum Thema Erinnerung.

„7 Schwestern“: 16.1. um 19.30 Uhr im Nord: Ein Dokumentarfilm von Anna-Elisabeth Frick über komplexe Familienstrukturen.

„Wer sind Sie? Was machen Sie hier?“ 16. 1. um 19 Uhr im Nord: Gastspiel einer Produktion der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg, inszeniert von Faraz Baghaei (Foto links).

„wellenreiter oder my daughters running through my veines“ – ein Text frei nach Anton Tschechow, 16. 1. um 21 Uhr im Nord: Hier geht es um das Leben eines alternden Schauspielers (Wolfgang Michalek) und seine talentierten Töchter – dargestellt von Schauspielerinnen und Stuttgarter Bürgerinnen. Regie: Armin Petras.

Premieren im Nord am 21. 1.: „Kulturküche: Die Maultasche ist überall“ um 18 Uhr; 20 Uhr: Uraufführung des Stückes „Die Anmaßung“ von Dramatiker Carsten Brandau.

Karten: 07 11 / 20 20 90. www.schauspiel-stuttgart.de