Wenn die Absperrung gefallen ist, beginnt das große Gedränge im Tafelladen an der Hauptstätter Straße. Foto: Leif Piechowski

Seit 20 Jahre versorgen Tafelläden arme Menschen mit Lebensmitteln. Doch die gute Idee von damals hat auch Schattenseiten. Ein Besuch in einem Tafelladen in der Stuttgarter Innenstadt gibt schockierende Einblicke. Gewalt, Diebstahl und eine Verrohung der Sitten sind an der Tagesordnung.

Stuttgart - Er ist wieder gekommen. So wie an jedem Wochentag. Er ist zu Fuß hergelaufen. Er hat leise geflucht. Und er hat sich selbst bedauert, weil sein Stolz und seine Ehre bedroht sind. Er hat versucht, nichts zu fühlen. Aber er ist wieder gekommen. Hierher auf die andere Seite der Stadt. Auf die andere Seite, die durch die Hauptstätter Straße wie in zwei Zonen geteilt ist. Er ist 46. Er ist ohne Job. Er ist zu alt für einen Neuanfang in der IT-Branche. Er bezieht Hartz IV, wie der Volksmund sagt. Deshalb kauft er in der Schwäbischen Tafel ein.

Lebensmittel auf lau.

„Hier bezahlt man die Sachen nicht nur mit Geld“, sagt er bitter, „hier gibst du den letzten Rest Menschenwürde an der Eingangstür ab.“ Die Währung, mit der hier gehandelt wird, kostet die Menschen viel. Selbstachtung. Überwindung. Es ist nicht leicht für Thomas Brauer (Name geändert), hier einzukaufen – als Bittsteller oder Mensch zweiter Klasse. Aber er gehorcht der Not, nicht seinen Gefühlen. „Wenn ich hier nicht einkaufen würde, dann wären zwei von drei Mahlzeiten trockener Reis.“

Verteilungskampf beginnt

Wer Thomas Brauers Zwiespalt verstehen will, muss einen Blick hinter die Milchglasfassade des Tafelladens an der Paulinenbrücke werfen. In diesen schmucklosen Laden, der seine Kunden mit kaltem Neonlicht empfängt. Erst dann wird klar, was er meint. Es ist Freitag. Etwa 100 Menschen drängen sich seit 10 Uhr auf engstem Raum. Jeder ist mit einem schwarzen Wassereimer ausgerüstet, der als Einkaufskorb dient. Jeder lauert und bringt sich in eine gute Position. Alle warten auf den Moment, in dem das frische Obst und Gemüse in den Laden geschoben wird.

Thomas Brauer macht bei dem nun beginnenden Verteilungskampf nicht mehr mit. Er nennt all die anderen hier „Tiere“. Er spuckt dieses Wort mit Abscheu aus. „Raubtiere, die auf ihre Fütterung warten.“ Lieber geht er ohne Obst und Gemüse nach Hause als ohne Würde. Er hat diese aufgestaute Wut oft genug erlebt. Diese Feindseligkeit, die in den Augen jener blitzt, die den anderen als Konkurrenten um Nahrung ansehen.

Was der 2011 gestorbene Vesperkirchenpfarrer Martin Friz in Stuttgart vor 18 Jahren mit viel Idealismus, einem Tapezierbrett und zusammengebettelten Lebensmitteln ins Leben rief, treibt viele Blüten. Und hat sich zu einer gigantischen Institution verselbstständigt. Allein in Stuttgart gibt es drei Tafel-Läden, in denen 385 Ehrenamtliche und 15 Hauptamtliche arbeiten. Im Schnitt kaufen täglich 230 Bürger, die eine Bonuskarte besitzen oder ihren schwachen sozialen Status nachweisen können, günstig Waren des täglichen Bedarfs zu Niedrigstpreisen ein. Und zwar sehr gute Qualität, die Lebensmittelläden, Bäcker oder Metzger spenden. Zum Beispiel sechs Bananen für 30 Cent statt 1,60 Euro. Einen Eisbergsalat für 10 Cent statt 1,29 Euro. Oder einen Laib Brot für 50 Cent statt vier Euro. Im Schnitt werden täglich 25 Tonnen gespendete Waren umgeschlagen. Die Tafel ist so zu einem sich selbst erhaltenden System geworden. Nur ein hoher Umsatz sichert die Deckung der Kosten.

„Manche sind von Habgier getrieben“

An diesem Tag ist die Luft in der Tafel geschwängert von dieser Aggression. Kurz vor dem Wochenende will jeder noch einmal groß einkaufen. Oft mehr, als er eigentlich braucht, glaubt Thomas Brauer: „Manche sind von Habgier getrieben.“ Hier bleibt kein Raum mehr für (Selbst-)Achtung. Jeder ist sich der Nächste. Und als Marktleiter Sebastian Kunze anordnet, die Ladenfläche per Absperrband künstlich zu halbieren, um die Waren in die Auslagen stellen zu können, steigt der Druck enorm. Die Kunden stehen jetzt eng zusammengepfercht aufeinander wie in einer U-Bahn zur Stoßzeit. Ellbogen schaffen sich Platz, wo eigentlich keiner ist. Der Laden ist erfüllt vom Raunen böser Worte. Es gilt das Recht des Stärkeren. „Die Sitten verrohen“, seufzt Brauer.

Erst recht in dem Augenblick, als das Absperrband fällt. Im Gedränge fallen auch alle Grenzen, die sonst gesellschaftliches Zusammenleben regeln. Rücksichtslos wird gehamstert und gestopft. Nach zehn Minuten ist alles weg. Eine Mutter, die ihren Säugling auf dem Arm trägt, ist chancenlos. Sie wird gestoßen, gerempelt, ignoriert. Sie geht leer aus.

Trotz niedriger Preis stehlen Menschen

Als Sebastian Kunze, der stellvertretende Marktleiter, diesen „Kampf um Lebensmittel“ das erste Mal erlebt hatte, war er fassungslos. „Ich komme aus normalen Verhältnissen“, sagt er, als müsse er sich entschuldigen. „Ich habe zwei Tage gebraucht, um das aufzuarbeiten.“ Inzwischen hat er sich daran gewöhnt. An die Gewalt. Den Rassismus mancher Kunden gegenüber den farbigen Tafelmitarbeitern. Und daran, „dass die Menschen selbst bei diesen niedrigen Preisen noch klauen“. Übrigens auch an diesem Freitag. Eine Frau Ende 50 lässt fünf Berliner in ihrer Tasche verschwinden. Gegenwert 50 Cent. Kunze erteilt der Frau Hausverbot – für eine Woche.

Gleiches blüht einem Mann, der mit Kunze im Clinch liegt. Der bullige Kerl ignoriert alles. Die Hausordnung und Kunzes Anweisungen. Die Hände des Kunden fuchteln wild, an seinem Hals treten dicke Adern hervor. Worte fliegen wie giftige Pfeile an Kunzes Kopf. „Verpiss dich!“ Es fehlt nicht viel – bis auch Fäuste fliegen. Die Situation ist brenzlig. Doch Kunze meistert die Situation und hebt zur Verteidigungsrede an. „Ich weiß“, sagt er, „ich muss mich selbst in meinem privaten Umfeld für meine Arbeit hier rechtfertigen.“ Auch gegen den Vorwurf, dass manche in der Tafel nur einkaufen, um die Waren später zu Marktpreisen weiterzuverkaufen. „Wir versuchen solche Hamsterkäufe zu unterbinden, indem wir die Ausweise kontrollieren, um zu sehen, wie viele Menschen in diesem Haushalt leben“, sagt Kunze. Er verschweigt nicht, dass ein und dieselbe Person in einem der drei Läden vor- und nachmittags einkaufen kann. Edgar Heimerdinger, Vorstand der Schwäbischen Tafel und Bereichsleiter der Caritas, ergänzt: „Gewerblicher Missbrauch lässt sich nie ganz ausschließen, aber wo wir ihn entdecken, gehen wir mit aller Härte dagegen vor.“

In Deutschland feiert diese Form der Armenspeisung just in diesem Frühjahr das 20-jährige Bestehen. Doch nicht alle bejubeln diesen Geburtstag. „Armgespeist – 20 Jahre Tafeln sind genug“ lautet etwa das Motto eines kritischen Aktionsbündnisses gegen die Tafeln. Das Bündnis argumentiert scharf gegen das existenzstützende Angebot: „Wir sehen kritisch, dass Tafeln zu einer Spaltung der Gesellschaft beitragen und damit Bürger ökonomisch abgekoppelt und sozial ausgegrenzt werden.“ Tafeln sollen Nothilfe sein, aber keine Dauereinrichtung, kein Platzhalter des Sozialstaats. Denn Arme dürften nicht zu Müllverwertern degradiert werden, für die gerade noch gut genug ist, was andere nicht mehr essen. Der Stuttgarter Tafelchef Edgar Heimerdinger kennt sie alle – diese Argumente der Kritiker. Doch so schlüssig sie auch klingen mögen, sie perlen an ihm ab wie Regentropfen an einer Glasscheibe. Er versteht diese Leute nicht. Und sie verstehen ihn nicht. „Wenn wir morgen die Tafelläden abschaffen, heben wir doch nicht die Armut auf – oder? Wir ändern doch so nicht die Ursachen der Armut.“

System mit Fehler

Damit hat er Recht. Und doch zeigt der tägliche Wahnsinn in den Läden, dass es in diesem System einen Fehler gibt. Eine unauflösbarere Kluft zwischen Theorie und Praxis. Zwischen gut gemeinter Hilfe und den unkontrollierbaren Nebenwirkungen.

Auf einem Plakat in Sebastian Kunzes Büro steht in großen roten Lettern das Wort „Wertschätzung“. Darunter etwas kleiner das Wort „Freundlichkeit“ sowie das Credo, das alle Tafelmitarbeiter bei ihrem Verhalten gegenüber Kunden verinnerlichen sollen: „Ich schätze dich als Mensch.“

„Diese Grundsätze beherzigt hier kaum ein Kunde“, sagt Thomas Brauer. Wer durch dieses „Training der Menschenkenntnis“ gegangen sei, ständig beschämt oder diskriminiert worden sei, hat fast alles verloren. Den Glauben ans Gute und an den Mitmenschen. Und dennoch hält er die Tafeln für „unerlässlich“. „Mir bleiben im Monat nach Abzug aller Kosten 182 Euro für Ernährung, Medikamente, Klamotten und Sonstiges“, sagt er, „ich könnte mich ohne die Tafel nicht ausgewogen und gesund ernähren.“

Er kommt auch morgen wieder. So wie an jedem verfluchten Wochentag. Er weiß inzwischen: Würde ist nur ein Konjunktiv.