Mit dabei: die 1993 in München in eine Familie geflüchteter jesidischer Kurden geborene Ronya Othmann Foto: Cihan Cakmak

Zwischen Wunschkonserven und Dodos auf der Flucht: Die Stuttgarter Lyriknacht eröffnet an diesem Freitag in der Stadtbibliothek die literarische Saison.

Man könnte sich zum Beispiel von einem Haiku der Dichterin Carmen Kotarski konzentriert zusammenfassen lassen, um was es bei der Stuttgarter Lyriknacht geht, mit der das Schriftstellerhaus, die Stadtbibliothek und das Literaturhaus in traditionsgemäßer Dreieinigkeit die literarische Saison eröffnen: „Was sich auch um sich selbst dreht / im Inneren erwarten sie momentan lebende Akteure“. Knapp, aber alles drin: In der Lyrik geht es um Sprache, darin brodelt das Leben, und an diesem Freitagabend hat man die Gelegenheit, ihren wichtigsten Repräsentantinnen und Repräsentanten leibhaftig zu begegnen.

Ungestörtes Scheitern

Eine davon ist Carmen Kotarski. Seit vielen Jahren durchkämmt sie lyrisch die Stadt und hat nebenbei die Kunstform der „Stuttgarter Haikus“ erfunden. Ihr Werk steht für die fruchtbare Reibung der Sprache an urbanen Reizen und Reizthemen wie unterirdischen Bahnhöfen.

Ob Stuttgart eine Stadt ist, in der man noch ungestört scheitern kann? In dem Gedichtband der Schweizerin Simone Lappert mit dem schönen Titel „Längst fällige Verwilderung“ stößt man nicht nur auf „angedellte Wunschkonserven“ und „erinnerungen wie kleine grüne erbsen, die von innen gegen die schote drücken“, sondern auch auf Fragen wie diese: „entschuldigung, wo kann ich hier ungestört / unbemerkt / ungebremst / unnahbar / unverschämt / unversehrt scheitern?“ Bisher hat sie äußerst erfolgreiche Romane geschrieben, und auch ihr lyrisches Debüt umschreibt das Gegenteil eines unbemerkten Scheiterns. Zu eindrücklich wuchert darin die Natur ins Innere: „als ob da ein wald unter der zunge, / ein blättriger störton im hals“.

Die Verwilderung, von der Ronya Othmann erzählt, ist grundsätzlicherer Art. „wer klaut dein kleid. wer fällt in deinen garten ein. / wer brennt bäume nieder. wer macht aus einem haus / einen Schützengraben. wer legt erde. wer schießt“. So heißt es in dem Gedicht „ich habe gesehen“ ihres Lyrikdebüts „Die Verbrechen“, dessen Titel an den ihres Romans „Die Sommer“ anschließt. Darin ging es um eine junge Frau, die zwischen einem Münchner Vorort und dem kurdisch-jesidischen Heimatdorf ihres Vaters aufwächst. Hier deutscher Pubertätsalltag, dort die sich anbahnende Katastrophe des IS-Terrors. In Fragen ohne Antwort und Fragezeichen zeigen Othmanns Gedichte nun, wie das Unaussprechliche eines Völkermords zum Gegenstand der Sprache werden kann: „wenn die soldaten kommen, wohin rennst du, wenn der mais schon abgeerntet ist“, oder: „könntest du noch einmal zurückkehren, was würdest du mitnehmen“.

Über die Entwilderung der Welt

Mit dem Tierporträtisten und -aktivisten Mikael Vogel endet der Abend. „Dodos auf der Flucht“ heißt ein Band Vogels mit Gedichten und Essays, das „Requiem für ein untergehendes Bestiarium“. Auch bei ihm findet Auslöschung ins Wort, jene unaufhaltsame Entwilderung der Welt, wie man in Anknüpfung an Simone Lappert sagen könnte, die mit der besitzergreifenden globalen Ausdehnung unserer Kulturzone einhergeht. Was die momentan lebenden Akteure dieser Lyriknacht zu sagen haben, ist weit davon entfernt, sich nur um sich selbst zu drehen.

Stuttgarter Lyriknacht
Die Gemeinschaftsveranstaltung des Stuttgarter Schriftstellerhauses, der Stadtbibliothek und des Literaturhauses beginnt an diesem Freitag um 19 Uhr in der Stadtbibliothek Stuttgart.