Happy End mit Nuss: Friedemann Vogel und Elisa Badenes Foto: Stuttgarter Ballett/Roman Novitzky

Einen „Nussknacker“ fürs 21. Jahrhundert hatte der Choreograf Edward Clug im Sinn. Doch das neue Stuttgarter Handlungsballett sorgt eher für Déjà-vus.

Kleider machen Leute, sagt man. Machen sie auch Tanz? Diese Frage kommt einem beim Blick auf den neuen „Nussknacker“ in den Sinn, den sich der Choreograf Edward Clug für das Stuttgarter Ballett ausgedacht hat – im Zusammenspiel mit dem Ausstatter-Altmeister Jürgen Rose, der schon Crankos Tanzhits gut aussehen ließ.

 

Am Freitag bei der Premiere im Opernhaus hat sich vielleicht der ein oder andere treue Ballettgänger verwundert in den Arm gekniffen. Auf der Bühne nahm E. T. A. Hoffmanns Erzählung über die Kraft von Fantasie und Liebe märchenhaft und schlüssig Gestalt an. In ihr geht es darum, wie die siebenjährige Clara Stahlbaum ihr Weihnachtsgeschenk, eine hölzerne Nussknacker-Figur, durch ihre aufrichtige Liebe von einem Fluch befreit und zu Leben erweckt.

Tanzt da der schrullige Altenclub aus „Onegin“?

Aber tanzte da wirklich die Festgesellschaft der Stahlbaums oder nicht doch der schrullige Altenclub aus „Onegin“? Auch beim finalen Pas de deux, wenn Clara im weißen Kleidchen in die Arme des befreiten Nussknackers fliegt, wenn sie, von Staatsorchester und Tschaikowsky schön dramatisch angetrieben, erst wie eine Eisprinzessin geschleudert, dann federleicht emporgehoben wird, gibt es ähnliche Déjà-vus. Vieles sieht aus wie in Crankos Zeiten, auch der Tanz ist keinen Schritt weiter.

Hätte Edward Clug, dem für das Stuttgarter Ballett Überraschungen wie „Pocket Concerto“ oder das Chopin-Stück „Ssss . . .“ gelangen, in einem moderneren Kontext befreiter choreografiert? Etwas steif, gefangen in Vergangenem wirken die Tanzszenen vor allem im ersten Akt. Darunter leidet auch die Logik der Erzählung; echtes Empfinden, emotionale Aufgewühltheit gelingen auf der Bühne glaubhaft nur in den gruseligen Momenten: Wenn der Nussknacker als doppelgesichtiges Wesen sein Schicksal tanzt, wenn Schlag Mitternacht zwölf Mäuse Clara attackieren. So gehört der anrührendste Moment des Abends zwei Kamelen, die im Spielzeugland des zweiten Akts für Furore sorgen mit dem schönsten und korrektesten arabischen Tanz der Ballettgeschichte.

Gute Unterhaltung für Kinder

Ansonsten hat dieser „Nussknacker“ kaum choreografischen Neuigkeitswert. Aber steht das auf der Anforderungsliste für ein familientaugliches Weihnachtsballett weit oben? Wohl nicht. Und was gute Unterhaltung für Kinder betrifft, funktioniert dieses Stück bestens – vom ersten bis zum letzten Bild: Da ist der Weihnachtsmarkt, der mit Schlittschuhläufern und Schneeballschlacht in Zeiten der Klimakrise vom guten alten Winter erzählt, da ist der stattliche Baum, den Clara und ihr Bruder Fritz auf einer beeindruckend hohen Leiter schmücken, da ist vor allem der zweite Akt, in dem Spielsachen, darunter viele Tierfiguren, in einem Zauberland lebendig werden. Das Duo Clug/Rose ist für manche Überraschung gut. Rose, inzwischen 85 Jahre alt, kann sogar Cliffhanger und Instagram-Motive. In der wunderbar wandelbaren Landschaft aus riesigen Walnüssen ließen sich bestimmt tolle Selfies knipsen.

Die Tänzer tun alles, um ihr Publikum mitzunehmen, allen voran Elisa Badenes als Clara. Mit Matteo Miccini als Fritz gibt sie ein unbeschwertes, neugieriges Geschwisterpaar ab, um dann in unerschütterlicher Treue dem Nussknacker zu folgen. Dass in diesem ein lebendiges Herz schlägt, lässt Friedemann Vogel von Beginn an durch groteske, schön getanzte Puppenmechanik durchscheinen. Jason Reilly hält als Pate Drosselmeier spannend die Balance zwischen Gut und Böse. Die Gruppe der Waldfeen bringt Naturmotive und Spitzentanz zusammen. Und die Schar der wuselnden Cranko-Schul-Kinder, ob als Mäuschen, Käfer oder Drache, holt auch die Kleinsten ab.

Rose erzählt mit Räumen und Requisiten

Rose ist ein Meister darin, mit Räumen und Requisiten Geschichten voranzubringen. Spielsachen, die ein fliegender Händler gleich in der ersten Szene präsentiert, macht er zum roten Faden dieses „Nussknackers“.

Die enge Welt der Stahlbaums begrenzen hohe Wände, eine finstere Jagdtrophäe an der Wand kündet von der Freiheit draußen. Und der Hirschkopf lässt keinen Zweifel daran, dass er sie mal selbst erlebt hat. Ein Hinweis im Programmheft, dass keine Tiere zu Schaden kamen, würde kleine Tierschützer und ihre Eltern beruhigen. Dass sich dafür Bastelanleitungen und Spiele finden, zeigt, wie nah ran das Stuttgarter Ballett an sein junges Publikum will. Zudem wird besänftigt, wer Sorge hat, dass zu viele Mittel in Roses üppiges Kostümspektakel flossen: Patenschaften ermöglichten 36 der 160 Outfits.

Standing Ovations für Jürgen Rose und für alle anderen ein langer Applaus, der einen weiteren halben Akt füllt, zeigen Tamas Detrich, dass seine Rechnung aufgeht: Der Intendant wollte nach dem Erfolg von „Mayerling“ unbedingt Rose ein zweites Mal zurückholen. Trotzdem hätte man gern gesehen, wie ein „Nussknacker“ heute aussehen könnte und was einem Choreografen wie Edward Clug zum Beispiel im Dialog mit der Bühnenbildnerin Katharina Schlipf eingefallen wäre. So viel Mut muss sein, will man vorankommen.

Info

Termine
Die nächste Vorstellung von „Nussknacker“ gibt es an diesem Dienstag um 19 Uhr im Opernhaus. Bis zum 18. Dezember folgen elf bereits ausverkaufte Vorstellungen; eventuell gibt es Restkarten an der Tageskasse. Über Weihnachten kann das Ballett wegen einer neuen Verordnung, die Auftritte von Schülern in den Ferien untersagt, nicht gespielt werden. Neben dem Nachwuchs aus der Cranko-Schule sind zwei Kinderchöre an der Aufführung beteiligt.

Stück
Für Stuttgart ist der Beitrag von Edward Clug und Jürgen Rose bereits das dritte „Nussknacker“-Kapitel. John Cranko machte den Anfang und interpretierte Petipas 1892 uraufgeführten Klassiker 1966 neu. Das Ballett, zuletzt 1968 aufgeführt, wurde nicht aufgezeichnet und ging bis auf wenige Ausschnitte verloren. Crankos Solist Heinz Clauss hatte, als er Direktor der Schule war, einen Pas de huit rekonstruiert. Marco Goecke choreografierte 2006 eine düstere Version des Klassikers im Kammertheater.