Roland Ostertag beim 5. Schlichtungsgespräch Foto: Kraufmann

Der Stuttgarter Architekt Roland Ostertag ist für Neubestimmung der Stuttgart-21-Diskussion.

Stuttgart - Von Halbierung, von halbierten, von halben Sachen wird zunehmend gesprochen. Gemeint ist nicht die exakte numerische, die 50-Prozent-Halbierung, sondern das grundsätzliche Auseinanderbrechen von Zusammengehörigem. Die halbierte Welt steht für ihre Spaltung in einen reichen und einen armen Teil, die halbierte Gesellschaft steht für die zunehmende soziale Spaltung unserer Gesellschaft, die halbierte Stadt steht für ihre Trennung in unterschiedliche räumliche und soziale Teile.

Auch Stuttgart wird von dieser Halbierung nicht verschont. Sicht- und wahrnehmbar bei der laufenden Schlichtung zwischen Befürwortern und Gegnern des Bahnprojekts Stuttgart 21 unter der Regie von Heiner Geißler. Unsere Gesellschaft, unsere Städte sind starken, quantitativen und weichen, qualitativen Kräften ausgesetzt. An dieser Halbierung, dem Primat der Technik, der Wirtschaftlichkeit, dem Ökonomismus, der Machbarkeit orientiert sich die Themenliste der Schlichtung. Rasch einigten sich die beiden Seiten, welche Themen darunter verstanden und behandelt werden sollen. Im Vordergrund die starken, quantitativen Kräfte: die bahnverkehrlich-strategische Bedeutung, die verkehrliche Leistungsfähigkeit des Projekts, Neubaustrecke Wendlingen-Ulm, Nutzen, Geologie, Ökologie/Städtebau, Kosten, Wirtschaftlichkeit. Bei einem Faktencheck muss selbstverständ- lich alles quantifizier-, messbar sein, Daten und Zahlen, Hektar, Euro, Sekunden, Quadratmeter. Unüberhörbar ist hier das 19. Jahrhundert: höher, weiter, schneller.

In der Auseinandersetzung zwischen den Befürwortern eines Durchgangsbahnhofs (Stuttgart 21) beziehungsweise eines ertüchtigten Kopfbahnhofs (K 21) spielten fast nur diese "Fakten" eine Rolle - als exaktes Abbild des Wertsystems, des Weltbilds unserer Gesellschaft. Stuttgart 21 unterliegt dem Diktat dieser "Fakten", doch auch K 21, auch die Schlichtung als Teil dieser Gesellschaft kann offensichtlich diesem Diktat nicht entgehen.

So aber wird die Stadt erneut oder schon wieder als funktionierende Maschine betrachtet, der Bahnhof als Abfertigungsanlage. Qualitäten von Städten und Lebenswelten, von städtischen (Groß-)Projekten lassen sich so nicht erfassen und bewerten. Auch nicht in Geißlers "Schlichtung". Fakten und Faktencheck genügen nicht.

Die Welt dieser Fakten - so wichtig diese sind - ist nur die eine Seite, ist die halbierte, die entzauberte Welt, die entzauberte Stadt. Die qualitativen, die nicht messbaren, nicht mit Zahlen und Daten fassbaren Faktoren, die "weichen Kräfte", sind mindestens ebenso wichtig.

Das Leitbild der weichen, der qualitativen Kräfte beinhaltet nicht nur die städtebaulichen Aspekte im engeren Sinne, es umfasst die stadtplanerischen, die räumlichen, die sozialen, die kulturellen, die historischen, die atmosphärischen, die emotionalen, die menschlichen Aspekte, die Themen Denkmalschutz, Nutzung, geistig-räumliche Mobilität und Vitalität, Gedächtnis der Stadt, (Bewusstseins-)Landschaft, Zukunftsperspektive.

Eine Stadt und damit auch Stuttgart ist Ergebnis einer langen Entwicklung, kein Ort bloßer Bedürfnisbefriedigung. Die Stadt ist ein begehbares Gedächtnis - bestehend aus Schichten, die ihren Charakter, ihre Persönlichkeit formen. Wir sind aufgefordert, darauf eine neue Schicht der Geschichte aufzubringen. Um dies zu können, gilt es, aus den Zügen der Städte ihre Herkunft, ihr Grundgesetz zu erkennen, um sie weiterentwickeln zu können. Stuttgart 21 bedeutet aus meiner Sicht radikalen Austausch, radikale quantitative Änderungen. Der Alternative, K 21, liegt die Strategie der kleinen, stufenweisen Schritte zugrunde, will keinen radikalen Austausch, ist für behutsame qualitative Änderungen.

Aus unserem städtischen Erbe, unserem begehbaren Gedächtnis schöpfen die Menschen ihre Erinnerung, altdeutsch mit Heimat, neudeutsch mit Identität bezeichnet. Dort suchen sie Übereinstimmung mit sich selbst, als Person, als Kollektiv.

Der Städtebau ist stets der Vollzugsbeamte der Epochenstimmung. Entsprechend sehen unsere Städte und Landschaften aus, auch unsere Stadt Stuttgart. Verdinglicht, entleert, entzaubert, ort- und bilderlos. Gegen die Fortsetzung dieser Entwicklung, dieses "Denkens", gegen die radikale Wandlung, Ver- und Entfremdung ihrer Welt, gegen die Betrachtung ihrer Stadt als funktionierende Maschine revoltieren die Menschen. Darauf lassen sie sich nicht (mehr) reduzieren. Sie wollen in einer, in ihrer Stadt leben, voller Erinnerung, Gedächtnis, Atmosphäre, nicht in einer halbierten Welt.

Wie wird nun der von Heiner Geißler erwartete Schlichterspruch lauten? Die bisherige Schlichtung behandelte nur die eine Hälfte, die der halbierten Welt der starken, quantitativen Kräfte. Novalis' Welt der "Zahlen und Figuren, das ganze verkehrte Wesen". Muss man also eine zweite Schlichtung empfehlen? Um die bisher vernachlässigte, andere Hälfte, die Welt der weichen, qualitativen Kräfte zu behandeln? Dichter raten uns: "Zahlen sind weniger als Eins, Lebendiges ist mehr als Eins, immer ist's ein Vieles."