Wie schnell ist die Rettung aus dem zukünftigen Stuttgart-21-Bahnhof möglich? Ein aktuelles Gutachten im Auftrag der Bahn kritisiert zu lange Evakuierungszeiten. Foto: Visualisierung Aldinger & Wolf

Die Evakuierung des künftigen Tief­bahnhofs bei Feuer dauert zu lange; zudem droht Gefahr durch enge Fluchtwege und schlechte Entrauchung. Zu diesem Schluss kommt ein Schweizer Gutachten. Die Bahn bestätigt die Expertise und will sie im neuen Brandschutzkonzept berücksichtigen.

Stuttgart - Das aktuelle Brandschutzkonzept für den Tiefbahnhof von Stuttgart 21 ist in großen Teilen ungenügend beziehungsweise unvollständig. Zu diesem Schluss kommt das renommierte Schweizer Gutachterunternehmen Gruner AG, das die Brandschutzkonzeption im Auftrag der Deutschen Bahn AG kritisch durchleuchtet hat.

„Wir kommen zu dem Ergebnis, dass derzeit kein gesamthaftes, funktions- und genehmigungsfähiges Konzept für Brandschutz, Sicherheit und Entrauchung der Projektbestandteile vorliegt“, heißt es in einem siebenseitigen Schreiben der Baseler Gruner AG vom 20. September 2012, das unserer Zeitung vorliegt. Dieses Urteil der Sicherheitsingenieure bezieht sich im Kern auf den geplanten Tiefbahnhof, aber auch auf die angrenzenden kilometerlangen Tunnel auf die Filder, nach Feuerbach, Bad Cannstatt, Unter- und Obertürkheim.

Stuttgart 21-Projektsprecher Wolfgang Dietrich bestätigte am Mittwoch die Existenz des Gutachtens. „Allerdings liegt uns zum selben Thema ein weiteres Gutachten vor, das derzeit aktualisiert wird“, sagte Dietrich. Er bestätigte, dass beide Experten in mehreren Punkten unterschiedliche Aussagen träfen. In den nächsten Monaten werde man die Gutachter und weitere Experten an einen Tisch holen, um ein „einheitliches, tragfähiges und regelkonformes“ Brandschutzkonzept zu erarbeiten. „Unser Ziel ist es, dass der neue Bahnhof alle Sicherheitsstandards erfüllt“, betonte Dietrich.

Für die Tunnelstrecken liegen weder ein vergleichbares Konzept noch Simulationsergebnisse vor

Darauf pocht auch die Stadt Stuttgart, die nicht nur Projektpartner der Bahn, sondern auch für die Berufsfeuerwehr der Landeshauptstadt zuständig ist. „Wir erwarten, dass die Bahn schnell und umfassend aufklärt. Fest steht: Brandschutz in den Tunneln und im neuen Hauptbahnhof hat für die Stadt oberste Priorität“, sagte OB Wolfgang Schuster am Mittwoch. Hier gebe es für ihn „keinen Spielraum“.

Grundlage für das Gruner-Gutachten ist das Brandschutzkonzept für den Tiefbahnhof mit Stand 29. August 2012. Für die Tunnelstrecken liegen weder ein vergleichbares Konzept noch Simulationsergebnisse vor; hier stützten sich die Schweizer auf mehrere Gespräche mit Projektbeteiligten. Demnach sei ein ausreichender Brandschutz in den Tunneln „anzunehmen“, urteilen die Gutachter. Ganz anders fällt jedoch ihr Urteil für den Tiefbahnhof aus.

„Das liegt deutlich über der Referenzzeit aus einschlägigen normativen Vorgaben“

In dem Brandschutzkonzept für den Tiefbahnhof – das ein höchst erfahrenes Düsseldorfer Ingenieurbüro im Auftrag des Bahnhofsarchitekten Christoph Ingenhoven vor Jahren erstellt und seitdem mehrfach aktualisiert hat – hätten ein Tochterunternehmen der Deutschen Bahn und Gruner bereits im Juni 2012 „verschiedene, teilweise kritische Mängel“ entdeckt, heißt es im Brief der Schweizer Gutachter. Obwohl das Düsseldorfer Ingenieurbüro danach diverse Ergänzungen vorgenommen habe, hätten sich „Erkenntnisse zu den identifizierten Mängeln erhärtet“, kritisiert Gruner.

Als eine der größten Gefahren im unterirdischen System Stuttgart 21 gilt ein Feuer an Bord eines Zuges. Das prinzipielle Rettungskonzept sieht vor, dass ein solcher Zug in den Tiefbahnhof fährt oder rollt und dort evakuiert und gelöscht wird. Diese Evakuierungszeit betrage aber auch im aktuellen Brandschutzkonzept weiterhin bis zu 23 Minuten nach Einfahrt des Zuges, moniert Gruner. Wenn man für die Einfahrt des Zuges sieben Minuten, für die Entdeckung des Feuers eine und als Reaktionszeit zur Evakuierung eine weitere Minute veranschlage, komme man aber auf 32 Minuten. „Das liegt deutlich über der Referenzzeit aus einschlägigen normativen Vorgaben“, kritisieren die Schweizer. Das Regelwerk für die S-Bahn zum Beispiel verlange eine „Selbstrettungsphase“ von 15 Minuten nach Brandbeginn.

Mittlere Stauzeit auf einem Bahnsteig bei einer Evakuierung im ungünstigsten Fall maximal 19 Minuten

Die Schweizer Experten kritisieren auch die Rettungswege im Tiefbahnhof: So betrage die mittlere Stauzeit auf einem Bahnsteig bei einer Evakuierung acht Minuten, im ungünstigsten Fall maximal 19 Minuten. „Diese Werte sind als äußerst kritisch zu beurteilen“, so die Gutachter. Auch die maximale Fluchtweglänge sei trotz zusätzlicher acht Treppenhäuser mit 45 Metern zu lang und die Breite der Fluchtwege zu gering.

Verschärft wird die Situation in den Augen der Gutachter durch eine schlechte Entrauchung der Bahnhofshalle. Dafür hat Ingenhoven das Öffnen der Lichtaugen in der Decke und den natürlichen Luftstrom vorgesehen. Die Schweizer sind skeptisch, ob das funktioniert. Sie schlagen der Bahn neben weiteren Fluchttreppenhäusern und breiteren Fluchtwegen die „grundsätzliche Überarbeitung des Entrauchungskonzepts“ mit zusätzlichen mechanischen Lüftern vor.

„Diese Maßnahmen haben jedoch erhebliche Auswirkungen auf den architektonischen Entwurf des Bahnhofs, insbesondere im Bereich der Bahnhofsdecke“, betonen die Gutachter. Sprich: Die filigrane Betondecke mit ihren markanten Lichtaugen wäre nach einem solchen Eingriff kaum haltbar. Ingenhovens Büro wollte sich am Mittwoch nicht zur Schweizer Expertise und deren möglichen Konsequenzen äußern. Auskunft gebe nur das S-21-Büro, hieß es in Düsseldorf