Stuttgart/Wien - Die mögliche Kostenexplosion beim Bahnprojekt Stuttgart 21 beschäftigt heute den Aufsichtsrat der Bahn. In Wien entsteht gleichzeitig ein ganz ähnliches Projekt. Dort hat der neue Hauptbahnhof am Sonntag Teileinweihung gefeiert. Ein Vergleich zweier Milliardenprojekte an derselben europäischen Bahn-Magistrale, die sich einerseits sehr ähneln, andererseits aber grundverschieden entwickelt haben.

Das Projekt

Wien
„Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist Wien keine Sackgasse in Europa mehr. Die Kopfbahnhöfe der Monarchie haben sich überholt“, sagt Projektleiter Karl-Johann Hartig von den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB). Die Grundidee ist deshalb, verschiedene Strecken, die heute in mehreren Kopfbahnhöfen enden, durchzubinden. Dafür sind Süd- und Ostbahnhof abgerissen worden. An ihrer Stelle entsteht ein oberirdischer Durchgangsbahnhof. Fünf von künftig zwölf Gleisen sind am Sonntag in Betrieb genommen worden. Der Rest folgt bis Ende 2014. Zudem entstehen eine Hochleistungsstrecke, neue Stadtviertel und wie in Stuttgart eine Anbindung des Flughafens.

Stuttgart
Wie in Wien ist in Stuttgart statt des bisherigen Kopfbahnhofs ein Durchgangsbahnhof samt Hochgeschwindigkeitsstrecke und Flughafenanbindung geplant. Allerdings sind hier deutlich mehr Tunnel und ein Tiefbahnhof vorgesehen, was Stuttgart 21 komplizierter macht. Zudem befürchten Gegner Risiken bei Grund- und Mineralwasser, die es in Wien nicht gibt. In Stuttgart werden 100 Hektar Fläche frei für neue Stadtteile. Die Fläche ist fast gleich groß wie in Wien, wo von 109 Hektar 59 neu bebaut werden mit Stadtvierteln, Park, Finanzzentrum und Bildungscampus. Der Bau ist in vollem Gange. In Stuttgart kann er erst nach dem eigentlichen Bahnprojekt beginnen. 

Die Kosten

Die Kosten

Wien
Das Bahnprojekt im engeren Sinne ist mit Kosten von 1,001 Milliarden Euro veranschlagt. Seit dem endgültigen Beschluss im Jahr 2007 haben sich die Kosten damit bisher um 115 Millionen Euro erhöht, was die ÖBB als Bauherrin und Kostenträgerin vorwiegend mit Inflation und zusätzlichen Baumaßnahmen begründet. Der knapp 13 Kilometer lange Lainzer Tunnel, der ins Stadtgebiet führt, hat zusätzlich 1,3 Milliarden Euro gekostet. Die Bebauung der frei werdenden Flächen soll etwa drei Milliarden Euro kosten. Davon entfallen 500 Millionen Euro für Straßen, Park, Infrastruktur und Bildungscampus auf die Stadt Wien. 2,5 Milliarden bezahlen private Immobilienentwickler.

Stuttgart
Kaum ein Punkt des Projekts ist so  umstritten wie die Kosten. 1995 plante die Bahn noch mit 2,5 Milliarden Euro.  Zuletzt ging man von 4,33 Milliarden aus, mit den Projektpartnern  ist ein Kostendeckel von 4,526 Milliarden  vereinbart. Vor einigen Tagen sickerte aus Bahnkreisen durch, dass das Projekt bis zu 5,6 Milliarden kosten könnte. Dazu könnten Mehrkosten von  300 Millionen Euro aus Schlichtung und verändertem Flughafenbahnhof kommen. Die Projektpartner wollen davon nichts übernehmen. Bisher sollen 1,23 Milliarden von Bund und EU kommen, 930 Millionen vom Land, 292 Millionen von der Stadt, 227 Millionen vom Flughafen und 100 Millionen vom Verband Region. 

Die Bauzeit

Die Bauzeit

Wien
In Wien gab es schon vor Jahren verschiedene Überlegungen, die aber verworfen worden sind. Zentrales Thema: Baut man unter Betrieb um oder nicht. „Unter Vollbetrieb umzubauen hätte länger gedauert und wäre teurer geworden“, sagt Projektleiter Hartig, „man muss sich trauen, zuzusperren.“ Deshalb ersetzen ein Provisorium und verschiedene Ausweichstationen im Stadtgebiet seit Ende 2009 den Süd- und Ostbahnhof. Die erste Planung für das Projekt ist 2006 eingereicht worden, die Arbeiten begannen 2009. Alle Bahnarbeiten sollen bis Ende 2015 abgeschlossen sein, die letzten Stadtviertel bis 2019 oder 2020. Gesamtzeit: maximal 14 Jahre.

Stuttgart
Erste Überlegungen zu einem Umbau des Bahnknotens Stuttgart gibt es schon Ende der 80er Jahre. Im April 1994 wird das Projekt Stuttgart 21 in seiner heutigen Ausprägung erstmals offiziell vorgestellt. 1999 legt die Bahn das Projekt vorübergehend auf Eis, um es kurz darauf wiederzubeleben. Erst im April 2009 werden die Weichen für das Projekt mit der Finanzierungsvereinbarung endgültig gestellt. Der offizielle Baubeginn ist im Februar 2010. Fertig sein sollen hätten die Bahnarbeiten ursprünglich 2019 – doch nach zahlreichen Verzögerungen ist derzeit von 2021 auszugehen. Erst danach kann der Städtebau beginnen. Gesamtzeit: 27 Jahre plus die Dauer des Städtebaus.

Die Widerstände

Die Widerstände

Wien
Gegen das Gesamtvorhaben gab es in Wien kaum Protest. Widerstände richten sich vor allem gegen einzelne Details des Projekts. So mussten nach Anwohnerprotesten in einem angrenzenden Bezirk 14 000 Lärmschutzfenster in denkmalgeschützte Häuser eingebaut werden. Nach einem runden Tisch mit den Bürgern ist die Höhe eines Hochhauses reduziert worden, dafür wurde an anderer Stelle aufgestockt. Außerdem mussten die Planer streng auf die Sichtachsen im historischen Wien achten. Große Probleme gab es mit dem Lainzer Tunnel: Dort gab es nach Sicherheitsbedenken und Anrainerbeschwerden von 2001 bis 2003 einen Baustopp. Die Bauzeit hat so 13 Jahre betragen.

Stuttgart
Die Proteste bei Stuttgart 21 richten sich bei den meisten Gegnern gegen das Gesamtprojekt. Aus verkehrlicher Sicht kritisieren sie, dass der neue Tiefbahnhof über geringere Kapazitäten verfüge als der alte Kopfbahnhof. Sorgen über Brandschutz oder um das Mineralwasser kommen ebenso dazu wie der Protest gegen die Fällung von Bäumen im Schlossgarten oder den Abriss der Seitenflügel des Bonatz-Baus. Seit drei Jahren gehen jeden Montag Tausende gegen das Projekt auf die Straße. Zeitweise beteiligten sich bis zu 50 000 Menschen an den Protesten, die ihren traurigen Höhepunkt am 30. September 2010 fanden, als es im Schlossgarten Hunderte Verletzte gab.

Die Kommunikation

Die Kommunikation

Wien
Die Kommunikation steht unter dem Titel „Mehr als ein Bahnhof“. Herz der Kampagne ist das sogenannte Bahnorama direkt neben der Großbaustelle. Auf 550 Quadratmeter Fläche können Interessierte in einer interaktiven Ausstellung alles über das Projekt erfahren. Dazu gehört der mit 67 Metern höchste begehbare Holzturm Europas, der später an anderen Baustellen zum Einsatz kommen soll. Das Konzept hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Internationalen Deutschen PR-Preis 2012. Weil die Stadtentwicklung und der Bahnhofsbau zeitgleich laufen, „konnten wir den Bürgern vieles konkret zeigen und Ängste nehmen“, sagt Sprecherin Alexandra Kastner.

Stuttgart
Auch in Stuttgart sind im Bahnhofsturm eine kleine Ausstellung und Aussichtspunkt direkt neben der Baustelle vorhanden. Seit kurzem gibt es zudem eine bescheidene Plattform im Schlossgarten, an der es bereits Zerstörungen gegeben hat. Dennoch gilt die Kommunikation der Bahn als Mitgrund für die heftigen Proteste. Man habe, so Befürworter des Projekts, das Feld zu lange den Gegnern überlassen. Als exemplarisch für die Probleme dürfen die Slogans stehen. Aus Stuttgart 21 wurde das Bahnprojekt Stuttgart – Ulm, aus dem „Neuen Herz Europas“ der Spruch „Die guten Argumente überwiegen“. Als „Jahrhundertprojekt“ bezeichnen Deutsche Bahn wie ÖBB ihre Vorhaben.