420 Meter lang für die ICE-Doppeltraktion, rund 120 Meter breit, acht Gleise, riesige Lichtaugen über der 10,40 Meter hohen Halle: Der neue Durchgangsbahnhof ist ein monumentales Verkehrsbauwerk. Entworfen hat ihn der Düsseldorfer Architekt Christoph Ingenhoven. Foto: Visualisierung Aldinger & Wolf

Ein Gutachten im Auftrag der Bahn kritisiert schwere Mängel beim Brandschutzkonzept von Stuttgart 21. Sicherheit im Tiefbahnhof gebe es nur durch größere Umbauten, meinen Experten. Das bringt die Finanzierung des Milliardenprojekts an ihre Grenze.

Stuttgart - Die Missstände beim Brandschutzkonzept von Stuttgart 21 werden am 22. Oktober Thema im Lenkungskreis. Das hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) am Donnerstag in einem Brief an Bahn-Chef Rüdiger Grube verlangt. „Wir werden das Thema selbst aktiv ansprechen“, heißt es im Bahn-Konzern.

Das Gespräch auf höchster Ebene der Stuttgart-21-Partner ist notwendig: Am Mittwoch war bekannt geworden, dass für den Tiefbahnhof von Stuttgart 21 derzeit „kein funktions- und genehmigungsfähiges Brandschutzkonzept“ vorliegt. Zu diesem Urteil kommen zwei Sicherheitsingenieure der Gruner AG in einem Schreiben an die Deutsche Bahn AG.

Das Gutachterunternehmen aus Basel hatte das Brandschutzkonzept des Tiefbahnhofs intensiv geprüft und macht jetzt auf erhebliche Missstände aufmerksam. Nach Informationen unserer Zeitung wurde das Schweizer Gutachten direkt aus dem Vorstandsbereich der Bahn in Auftrag gegeben. Der Bau des Tiefbahnhofs von Stuttgart 21 ist zwar seit 2006 rechtskräftig genehmigt, wozu auch ein gültiges Brandschutzkonzept gehört. Doch 2008 änderten sich wichtige gesetzliche Bestimmungen, weshalb das Eisenbahn-Bundesamt 2010 ein aktuelles Brandschutzkonzept forderte. Dieses Brandschutzkonzept in seiner aktuellsten Fassung vom 29. August 2012 haben die Schweizer Gutachter beurteilt.

Problematisch ist laut Schweizer Gutachter auch die Entrauchung der Bahnhofshalle

„Die Dinge, die der Schweizer Gutachter kritisiert, lassen sich wohl bau- oder ingenieurtechnisch lösen“, sagt ein Experte unserer Zeitung, der mit dem Projekt gut vertraut ist. „Allerdings kostet alles mehr Zeit und mehr Geld.“ An erster Stelle steht der Schutz der Menschen vor den hochgiftigen Rauchgasen bei einer Evakuierung. Um die unterste Bahnhofsebene mit acht Bahnsteigen von der eine Treppe höher liegenden Fußgänger-Verteilerebene so zu entkoppeln, dass bereits die Verteilerebene als „sicherer Bereich“ gelten könne, müsse die obere Ebene zum Beispiel teilweise mit Glas verkleidet werden, erklärt der Experte: „Das würde die vom Gutachter als zu lang kritisierten Fluchtwege deutlich verkürzen.“

Problematisch ist laut Schweizer Gutachter auch die Entrauchung der Bahnhofshalle. Das aktuelle Konzept sieht vor, dass dazu zwei Lüftungsanlagen an der nördlichen und südlichen Tunnelzufahrt die Rauchgase absaugen. Die Gutachter warnen vor diesem Vorgehen, weil die Luft in der kompletten Halle nach 24 Minuten mit Rauchgasen vergiftet sei. Das Brandschutzkonzept nenne aber gleichzeitig Evakuierungszeiten von bis zu 23 Minuten. „Man müsste Rauchgase direkt an der Decke des Bahnhofs mit vielen Lüftern absaugen“, sagt der Experte. Das würde aber den archetektonischen Entwurf des Tiefbahnhofs mit seinen markanten Lichtaugen massiv beeinträchtigen oder gar unmöglich machen. Das hatten auch die Schweizer erkannt.

Die Bahn hat am Mittwoch betont, dass der Brandschutz für sie „oberste Priorität“ habe. Bis Herbst 2013 will die Bahn die Kritikpunkte der Gutachter in das jetzige Brandschutzkonzept einarbeiten und es beim Eisenbahn-Bundesamt zur Abnahme vorlegen. Auch Bahnhofsarchitekt Christoph Ingenhoven ist in den Prozess eingeschaltet. Was die Nachbesserungen kosten, ist noch unklar. Nach Schätzungen könnte es ein zweistelliger Millionenbetrag werden.

Bis heute nicht geklärt, wer die 70 Millionen Mehrkosten aus der S-21-Schlichtung zahlt

Die Mehrkosten für den besseren Brandschutz will die Bahn aus dem Risikotopf bestreiten, der zurzeit noch 390 Millionen Euro umfasst. Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) pocht darauf, dass diese Kosten die Bahn alleine zahlt. Dazu gibt es weitere, offene Rechnungspositionen: Bis heute ist unter den Partnern Bund, Land, Stadt Stuttgart, Region und Bahn nicht geklärt, wer die 70 Millionen Mehrkosten aus der S-21-Schlichtung zahlt. Falls die Ergebnisse des Filderdialogs umgesetzt werden und der Flughafenbahnhof verbessert wird, dürften weitere 100 bis 150 Millionen Euro Mehrkosten anfallen. Eine erste Kostenangabe wird im Lenkungskreis erwartet. Bisher weigern sich alle Partner der Bahn, sich an diesen Mehrkosten zu beteiligen. Die Kostenobergrenze liegt bei 4,526 Milliarden Euro und sei „fast erreicht“, heißt es beim Land.

Die Grünen im Rathaus fordern, dass die Bahn und Ingenhoven „schlüssig nachweisen, ob sich der Entwurf mit optimalem Brandschutzkonzept verbinden lässt“. Die SPD im Gemeinderat will von der Bahn wissen, „welche Konsequenzen“ sie aus dem Schweizer Gutachten zieht, ob Pläne geändert werden müssen und was das gegebenenfalls „in finanzieller Hinsicht bedeutet“.