Das Haus der Landeswasserversorgung in der Schützenstraße. Foto: Peter Petsch

Die Deutsche Bahn muss bei ihrem Projekt Stuttgart 21 mit Klagen rechnen. Eigentümer bezweifeln, dass die Entschädigungen für den Tunnelbau ausreichend sind.

Die Deutsche Bahn muss bei ihrem Projekt Stuttgart 21 mit Klagen rechnen. Eigentümer bezweifeln, dass die Entschädigungen für den Tunnelbau ausreichend sind.

Stuttgart - Nach nur 15 Tagen hat die Bahn vergangene Woche den Vortrieb für einen Baustollen des Fildertunnels eingestellt. Sie hatte versäumt, sich mit dem Grundstückseigentümer, der Landeswasserversorgung (LW), über die Entschädigung für den unter deren Bürohaus hindurchführenden Tunnel zu einigen. Der Streitwert liegt bei 18.500 Euro. Der Bahn entstehen durch den Stopp des Vortriebs täglich rund 20.000 Euro Stillstandskosten. Sie könnten sich auf 1,5 Millionen Euro summieren.

Die Baustelle beim Wagenburgtunnel ruhe nicht komplett, Sicherungs- und Spritzbetonarbeiten würden fortgeführt, teilte Stuttgart-21-Sprecher Wolfgang Dietrich mit. Der bisher 45 Meter lange Tunnel könne im schlechtesten Fall aber erst in zehn bis zwölf Wochen, also Anfang/Mitte Januar, weitergebohrt werden. So lange dauert die sogenannte vorzeitige Besitzeinweisung durch das Regierungspräsidium. Sie wurde am 4. November beantragt.

Die Bahn hofft auf eine schnellere Einigung mit der LW. Deren Geschäftsführung hatte, in Absprache mit dem damaligen Verbandsvorsitzenden, dem Esslinger OB Jürgen Zieger (SPD), ihre Mitglieder im Verwaltungsrat um Zustimmung für die von der Bahn durch die neue Rechnung reduzierte Summe gebeten. „Das war eine übergeordnete politische Entscheidung“, so LW-Sprecher Bernhard Röhrle. Man stehe Stuttgart 21 „wohlwollend gegenüber, weil ein öffentliches Interesse dahintersteht“.

Das Einlenken verhindert hat die Stuttgarter Grünen-Stadträtin Gabriele Munk. Sie sagt, die Liegenschaft des öffentlichen Wasserversorgers sei unterbewertet. Der Bodenrichtwert, mit dem die Bahn rechne, hebe auf eine bis zu dreigeschossige Bebauung ab. „Das Planungsrecht lässt an der Schützenstraße 4 bei der Wasserversorgung aber sieben Geschosse zu“, so Munk. Das Entschädigungsangebot der Bahn müsse die tatsächlichen Bodenwerte berücksichtigen. Sie habe eine Neuberechnung angeregt.

Alle Eigentümer gleich behandeln

Die Landeswasserversorgung ist diesem Hinweis nun gefolgt. „Wir haben beim Stadtmessungsamt einen Antrag auf Bewertung gestellt und die Stadt um die Beschleunigung des Verfahrens gebeten“, sagt Röhrle. Der mögliche Schaden der Bahn habe den Verband „nicht zu interessieren“.

Die Bahn habe mit ihrem Gutachten „das gleiche Problem wie die Wasserversorgung“, sagt S-21-Sprecher Dietrich: Sie müsse alle Eigentümer gleich behandeln, orientiere sich daher an ihrem eigenen gutachterlichen Bewertungsverfahren. Dieses Verfahren war im Oktober 2012 von der Freiburger DIA Consulting AG im Auftrag der Bahn entwickelt worden. Eine Art „Lex Wasserversorgung“ darf es aus Sicht der Bahn nicht geben.

Das von der Bahn als „Gutachten“ bezeichnete Papier sei „allenfalls ein Versuch, einen Sachverhalt einer neu erfundenen Methodik zu unterwerfen“, sagt Ulrich Wecker. Der Geschäftsführer des Haus- und Grundbesitzervereins in Stuttgart lässt kein gutes Haar an der Berechnung. Die Entschädigung über die Flächenausnutzung (ein bis drei Drittel des Grundstücks) zu ermitteln sei „frei gewürfelt“, so Wecker. Das Gutachten habe einen Auftraggeber, „und der ist Partei", so Wecker. Weil Haus und Grund als Verband nicht klagen kann, sucht der Verein einen Eigentümer für eine Musterklage.

Mehr Geld nachfordern nicht möglich

Der könnte schon bald gefunden werden, glaubt Armin Wirsing. Er vertritt als Anwalt mehrere Betroffene. Auch er sieht „offensichtliche Ungereimtheiten in diesem DIA-Gutachten“. Ein Bodenrichtwert, der sich über ein großes Gebiet mit unterschiedlicher Bebauungsmöglichkeit ziehe, könne „rechtlich nicht maßgebend sein“. Was Wirsing besonders wurmt: Die DB-Verträge kennen keine Nachzahlungs- oder Meistbegünstigungsklausel. Wer also jetzt einschlägt, kann später, falls die Bahn doch mehr Geld gibt, nichts nachfordern.

Der Fall der Wasserversorgung hat die Stuttgart-21-Baugesellschaft kalt erwischt. Deren neuer Chef Manfred Leger erfuhr dem Vernehmen nach erst Tage nach dem zwangsweisen Stopp davon. Das Thema Entschädigungen ist dem Unternehmen aber nicht neu. Legers Vorvorgänger, S-21-Planungschef Hany Azer, hatte gegenüber Bahn-Infrastrukturvorstand Volker Kefer in einer internen Risikoliste 2011 das Risiko „nicht realisierte Einsparpotenziale: Grunderwerb – Bewertung Grundstücke“ angesprochen und es mit 108 Millionen Euro bewertet. Sollte der Bauverzug unter der Schützenstraße das Projekt stark verzögern, kämen weitere 100 Millionen Euro hinzu.