US-Präsident Abraham Lincoln (mit Zylinder) 1862 beim Führungsstab der Unionsarmee Foto: Apple TV+/Library of Congress

War der Sklavenbefreier Abraham Lincoln ein großer Präsident oder ein Heuchler? Die Dokuserie „Lincoln’s Dilemma“ bei Apple TV+ liefert das faire Bild eines Mannes zwischen Idealen und Realitäten.

Stuttgart - Washington könnte bald brennen. Nicht weit von der Hauptstadt der USA stehen Bürgerkriegsarmeen des Nordens und des Südens gegeneinander im Feld. Abraham Lincoln, der Präsident im Weißen Haus, veröffentlicht am 1. Januar 1863 seine „Emancipation Proclamation“, einen Meilenstein in der amerikanischen Geschichte. Alle Sklaven in den Krieg führenden Südstaaten werden zu freien Menschen erklärt. Der Republikaner Lincoln geht damit als einer der größten US-Präsidenten in die Geschichtsbücher ein, als Mann, der ein Schandmal beseitigt und viele Menschen von großem Leid erlöst hat.

Aber dieser heroisch naive Blick auf die Geschichte war einmal. Längst wird Lincoln von rechts und links viel kritischer gesehen, ja, teilweise in düstersten Farben gemalt, als Heuchler, Politwiesel und heimlicher Rassist. Im Zeitalter von Donald Trumps Lügenkampagnen und der Parallelwirklichkeit von Fox News wird aus kritischer Differenzierung also grelle Verzerrung. Da kommt, gerade für Europäer, denen das alles noch ein bisschen ferner ist als manchen Amerikanern, die vierteilige Dokuserie „Lincoln’s Dilemma“ beim Streamingdienst Apple TV+ gerade recht.

Hoffen auf die Massenflucht

„Lincolns Dilemma“ leugnet nicht, was einige afroamerikanische Intellektuelle und Gebildete unter ultrareaktionären Südstaatlern Lincoln in paradoxer Einmütigkeit vorwerfen: dass der Präsident des Nordens anfangs keinesfalls einen Bürgerkrieg mit dem Ziel der Sklavenbefreiung geführt hat. Lincoln führte Krieg zur Wiederherstellung der Union aller Bundesstaaten. Dieser 1861 begonnene Waffengang lief für den materiell überlegenen Norden erbärmlich schlecht. Die Sklavenbefreiung rief Lincoln 1863 also aus, um dem Norden ein neues idealistisches Kriegsziel zu geben und um die Südstaaten zu destabilisieren. Im Norden hoffte man auf eine Massenflucht der Sklaven – und darauf, dass sich viele befreite Sklaven der Armee zur Verfügung stellen würden.

Der Vierteiler rückt das allerdings sauber zurecht. Lincoln war durchaus ein entschiedener Gegner der Sklaverei. Aber er wusste stets, dass der Streit um diese unmenschliche Institution das Land zerreißen konnte. Er setzte vor seiner Präsidentschaft auf Eindämmung, auf schrittweise Zurückdrängung der Sklaverei, denn er sah das Potenzial für einen Bürgerkrieg. Trotzdem stellten ihn seine Gegner aus dem Süden als durchgeknallten Radikalen dar, der ein weißes, gottgewolltes Amerika in den Untergang reißen würde.

Die schmutzige Kunst des Möglichen

Als der Krieg dann da war, lief er so miserabel für den Norden, dass Lincoln fürchten musste, diejenigen Sklavereiregionen, die sich der Rebellion des Südens noch nicht angeschlossen hatten, könnten das Zünglein an der Waage bilden. Um sie in der Union zu halten, betonte er anfangs, der Krieg werde um die Einheit der Union und um nichts anderes geführt. Die Dokumentation „Lincoln’s Dilemma“ fächert diese politische Situation vor und im Krieg nachvollziehbar auf. Sie zeigt mit guten Interviews und flotten Animationen, dass Lincoln nicht um moralische oder humanistische Positionen rang, da hatte er sich längst entschieden, sondern um politische Durchsetzbarkeit.

„Lincoln’s Dilemma“ gibt einen spannenden Einblick in die amerikanische Geschichte. Aber der Vierteiler ist vor allem brandaktuell: Er schildert Politik als Feld der Sachzwänge und Machtkalkulationen, als schwierige, manchmal nachgerade schmutzige Kunst des Möglichen. Und das an einem einleuchtenden Beispiel, weil der Krieg auch damals als letzte drohende Möglichkeit politischer Fehlkalkulation keine rhetorische Finte von Parlamentsreden blieb, sondern blutige Wirklichkeit wurde.