Ist die Stadt Stuttgart überhaupt für Strafzettel zuständig? Juristisch ist das gar nicht so eindeutig. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Kein Aprilscherz: Das Landesgesetz zur Straßenverkehrsordnung enthält juristische Fallstricke. Allerdings für die Behörden – zur Freude von Verkehrssündern. Wie kann das sein?

Stuttgart - Die Beweislage ist eindeutig. Als ein 33-jähriger Stuttgarter mit seinem Audi auf der B 27 bei Kornwestheim viel zu schnell unterwegsist, wird er geblitzt. Er hat 74 Kilometer pro Stunde auf dem Tacho, es hätten nur 60 sein dürfen. 20 Euro Verwarnungsgeld werden fällig. Das Ungewöhnliche an dem Routinefall vom 2. Dezember 2016: Trotz Beweisfoto und polizeilichem Zeugen sowie scheinbar klarer Rechtslage muss der Autofahrer aus Feuerbach nicht zahlen. Sein Verfahren wird vom Amtsgericht Ludwigsburg eingestellt, der Rechtsstreit geht auf Kosten der Staatskasse.

„Anfangs habe ich mich auch über die Argumente meines Mandanten gewundert“, sagt der Stuttgarter Rechtsanwalt Roland Kugler, „doch dann wurde klar: Da gibt es tatsächlich eine rechtliche Lücke.“ Des Pudels Kern ist das baden-württembergische Gesetz über Zuständigkeiten nach der Straßenverkehrsordnung. Darin hält das Land fest, dass Straßenverkehrsbehörden die unteren Verwaltungsbehörden sind, soweit nicht etwas anderes im Gesetz oder durch Rechtsverordnung bestimmt ist. Doch diese Verweisung enthält noch ein Haltbarkeitsdatum: „Im Sinne der Straßenverkehrsordnung vom 16. November 1970.“

Ein Datum des Jahres 1970 ist ein Problem

Das Problem sei aber, darauf wies der 33-jährige Stuttgarter den Anwalt und auch das Amtsgericht Ludwigsburg hin, dass die Straßenverkehrsordnung (StVO) von 1970 gar nicht mehr gültig ist. Der Bundesgesetzgeber hat mit Datum 1. April 2013 eine neue StVO in Kraft gesetzt, die den Status von 1970 ablöst und die Landesbehörden mit der Umsetzung beauftragt – mit einem Zuständigkeitsgesetz. „Mit dem fehlerhaften Text des Landes gibt es keine formal wirksame Regelung, wer als Straßenverkehrsbehörde zu betrachten ist“, stellt Anwalt Kugler fest, Weil „starr auf 1970 verwiesen“ werde. Im Gegensatz zu Bayern, wo die Bestimmung ganz ohne Datum fortgeschrieben wurde.

Droht dem Land also Ungemach? Müssen die Kommunen alle Strafzettel wegen Rechtsunwirksamkeit zerknüllen? Nein, erklärt das Landesverkehrsministerium. Paragraf 44 der StVO, mit dem die Länder ihre jeweiligen Verkehrsbehörden bestimmen, gelte weiterhin. „An der vom Landesgesetzgeber vorgenommenen Zuweisung der Zuständigkeit hat sich nichts geändert“,sagt Ministeriumssprecher Edgar Neumann.

Stadt: Bußgeld wird nicht zurückgezahlt

Diese Rechtsauffassung werde außerdem vom Verwaltungsgerichtshof Mannheim gestützt, der am 15. September 2014 klargestellt habe, „dass sich die streitige sachliche Zuständigkeit nicht maßgeblich geändert haben dürfte“. Die Richter hatten einen Fall von 2008 im Enzkreis zu entscheiden, bei dem ein Grundstückseigentümer von der Ortspolizeibehörde aufgefordert worden war, eine Warnbake an der Straße zu entfernen. Die Richter erklärten, dass die Ortspolizeibehörde dafür nicht zuständig sei, sondern die Straßenverkehrsbehörde. Für Anwalt Kugler ist das freilich kein Argument: „Erstens wurde unsere Frage explizit gar nicht behandelt, zweitens lag der Fall noch vor der Gesetzesänderung.“

Die Stadt Stuttgart sieht sich als zuständig an – aus anderen Gründen. „Paragraf 53 der Straßenverkehrsordnung stellt klar, dass die StVO von 2013 gilt, also durch Rechtsverordnung anders bestimmt wurde“, sagt Stadtsprecher Martin Thronberens. Bereits bezahlte Bußgeldbescheide hätten auf alle Fälle Rechtskraft. „Eine Rückerstattung“, so Thronberens, „sieht das Gesetz nicht vor.“

Ministerium räumt „Irritationen“ ein

Das Amtsgericht Ludwigsburg ist indes nicht so weit gegangen, das Land sozusagen auf die Anklagebank zu bringen. „Für die Einstellung war nicht eine Rechtsunsicherheit maßgebend“, sagt Gerichtssprecher Ulf Hiestermann, „die Richterin hat dies aus Opportunitätsgründen getan.“ Der Fall habe nicht mehr „weiter geahndet werden müssen“. Die Einstellung ist rechtsgültig. Gleichwohl, sagt der Gerichtssprecher, sei die Rechtsproblematik bekannt. Es handele sich um einen „redaktionellen Fehler“, den man wohl „klarstellen müsste“.

Und das will das Landes-Verkehrsministerium nun doch auch tun. „Wir wollen den Wortlaut an die Änderungen der StVO anpassen“, sagt Sprecher Neumann. Warum dies nicht schon 2013 erfolgte, bleibt offen. Damals hatte der Stuttgarter auf die Problematik hingewiesen, das Ministerium bildete eine Arbeitsgruppe. Warum erst nach vier Jahren nachgebessert wird, begründet das Ministerium dem 33-Jährigen per Mail am Montag so: „Um Zweifelsfragen vorzubeugen, die sonst durch Auslegung zu klären wären“, heißt es. Und „um Irritationen durch den Wortlaut der Regelung zu vermeiden und Rechtssicherheit zu schaffen“. Dies sei aber zeitintensiv und frühestens im ersten Quartal 2018 der Fall.