Nicht nehmen ließ es sich der Künstler Gunter Demnig, die Stolpersteine eigenhändig in das Pflaster zu versenken, hier vor der Paulinenstraße 45 Foto: Heinig

Jetzt sind sie auch in Schwenningen ins Pflaster eingebettet: Elf Stolpersteine des Kölner Künstlers Gunter Demnig verlegte dieser am Sonntag eigenhändig. Noch einmal so viele fanden zuvor im Stadtbezirk Villingen ihren Platz in Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus, die hier lebten.

Villingen-Schwenningen - Der Erfinder und Erschaffer der goldglänzenden Stolpersteine kam am Wochenende zum zweiten Mal nach VS. Bereits im Oktober war Demnig der Einladung des Vereins "Pro Stolpersteine VS" gefolgt und hatte in Villingen 18 Steine vor den Haustüren der jüdischen Familien Schwab, Boss, Schwarz und Bikart einzementiert, die dort bis zu ihrer Deportation gewohnt hatten. Damals wie jetzt war das Interesse der Bevölkerung groß, Je rund 50 interessierte Menschen wohnten der mehrteiligen Aktion an insgesamt neun Verlegestellen in beiden Stadtbezirken bei und lauschten den traurigen Geschichten der Mitbürger von damals, verlesen von Vereinsmitgliedern.

Tochter mit einem Kindertransport in Sicherheit gebracht

Darunter befanden sich auch Nachfahren der Opfer. In der Paulinenstraße 45 in Schwenningen erinnert ein Stolperstein jetzt an Margarethe Sterneck. Die Jüdin, zuletzt eine in München gefeierte Opernsängerin, fand im Pfarrhaus der Johanneskirche Zuflucht und wurde von Pfarrer Gotthilf Weber versteckt. Ihr Mann war an Krebs gestorben, ihr Sohn ins KZ Dachau deportiert und die Tochter mit einem Kindertransport in Sicherheit gebracht. Kurz vor Kriegsende nahm sich Margarete Sterneck aus Verzweiflung das Leben.

Zur Stolpersteinverlegung ihr zu Ehren angereist waren ihre beiden Enkelkinder, Peter J. Sanders aus Frankfurt und Jennifer Nash aus Schottland. Vor der Adresse Karlstraße 72 verlegte Demnig vier Steine für die jüdische Familie von Max Bikart, ein Zahnarzt und Bruder von Louis Bikart, an den in der Waldstraße 11 in Villingen schon seit Oktober ein Stolperstein erinnert. Die Verlegung eines Steines für den dritten Bikart-Bruder Hermann, Betreiber einer Viehhandlung am Villinger Münsterplatz, ist für den Herbst geplant. Pierre Bikart mit Familie aus Straßburg und Max Bikarts Enkel Carlos Scheurenberg aus Luzern waren am Sonntag dabei.

SPD-Stadtrat verteilte unter Lebensgefahr Anti-Nazi-Druckschriften

In der Talstraße 25 liegt jetzt ein Stolperstein für Karl Schäfer. Der engagierte SPD-Stadtrat verteilte unter Lebensgefahr Anti-Nazi-Druckschriften und stimmte als einer von wenigen Räten, gegen die Verleihung der Ehrenbürgerwürde an Adolf Hitler. 1938 wurde er verhaftet, schwer gefoltert und ermordet. An Jakob und Johanna Katz mit ihren Kindern Alice und Willy erinnern vier Steine in der Mutzenbühlstraße 26. Jakob Katz war ein erfolgreicher jüdischer Geschäftsmann, der 1937 mit seiner Frau in die USA emigrierte, ebenso wie später seine Kinder. Zuvor wurde Alice von ihrem Ehemann, einem Nationalsozialisten, verlassen, verliert damit jede Sicherheit und überlebt das Ghetto in Theresienstadt. Anna Marie Schlenker wird jetzt vor dem Haus Sturmbühlstraße 52 gedacht. Sie war, weil im Rottenmünster zunächst als "psychisch auffällig", später als "vorzeitig dement" erklärt, eines der ermordeten Opfer in Grafeneck.

Zuvor war der Künstler in Begleitung von Friedrich Engelke, dem Vorsitzenden von "Pro Stolpersteine VS", in Villingen aktiv. Vier Stolpersteine erinnern jetzt in der Herdstraße 16 an die Familie Haberer. Hier lebten Berthold und Georgine Haberer mit ihrem Sohn Joseph, dem Pflegesohn Erich Gaber und später der Pflegetochter Bella Kohn. Die Eltern starben nach ihrer Deportation 1940 im südfranzösischen Gurs, die Kinder überlebten. Als jüdisches Kind durfte Joseph Haberer die Schule nicht mehr besuchen, wurde gehänselt und vereinsamte. Er war neun Jahre alt, als seine Eltern ihn 1938 mit einem Kindertransport nach England in Sicherheit brachten. Er sah sie nie wieder. Bis zu seinem Tod 2013 besuchte er VS mehrfach und berichtete unter anderem Schulklassen von seinen Erlebnissen damals. Nach ihm ist in VS auch ein Preis für die Aufarbeitung der unseligen Geschichte der NS-Zeit benannt.

Widerstand aus religiöser Überzeugung geleistet

In der Sebastian-Kneipp-Straße 36 lebte Lina Zaitschek mit Felix, Emma und Elsa, drei ihrer neun Kinder. Felix ist ein erfolgreicher Kaufmann und wandert nach schweren Repressalien hier 1938 in die USA aus. Die beiden Schwestern werden deportiert und fallen der ersten systematischen Ermordung von Juden zum Opfer. Lina wird 1942 im KZ Theresienstadt umgebracht. Je einen Stolperstein legte Gunter Demnig für den aus religiöser Überzeugung Widerstand leistenden Ewald Huth, der 1933 wegen "Wehrkraftzersetzung" verhaftet und 1944 ermordet wurde, in der Kanzleigasse 8 und für Josef Heid, den sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten, der 1933 in Schutzhaft genommen und ebenfalls 1944 in Dachau erschossen wurde, in der Kirnacherstraße 26.

"Dieses Erinnern an Menschen, die aus der Mitte unserer Stadtgesellschaft brutal gerissen wurden, ist mit der heutigen Verlegungsaktion in Villingen und Schwenningen nicht abgeschlossen", sagte Oberbürgermeister Jürgen Roth am Abend im Martin-Luther-Haus, wo der Künstler über seine erstmals 1996 umgesetzte Idee für das mit mehr als 75 000 verlegten Stolpersteinen "größte dezentrale Mahnmal der Welt" referierte. Das eigentliche Kunstwerk beginne mit dem Stolpern über die verlegten Steine gerade erst, so Roth weiter. Das lange Schweigen der Nachkriegsbevölkerung, die sich gut mit der Nullpunkt-Politik Adenauers arrangieren konnte, sei durch das Engagement des Vereins "dem bewussten Umgang mit der Vergangenheit unserer Stadt" gewichen. Ein Verein, "der das Thema immer wieder in den öffentlichen Diskurs einbrachte und die Kraft hatte, die dicken politischen Bretter hier zu bohren", lobte der OB.