Der US-Amerikaner Jim Martin neben einer Nachbildung der Freiheitsstatue im Buchhaus Wittwer in Stuttgart Foto: Peter Petsch

Die Vereinigten Staaten sind eines der wenigen Länder, in denen Fußball nicht die Sportart Nummer eins ist. Trotzdem gewinnt der Soccer, wie er in den USA heißt, immer mehr an Bedeutung. Jim Martin, ein Stuttgarter aus den USA, Deutschlehrer und Fußballtrainer, erzählt.

Die Vereinigten Staaten sind eines der wenigen Länder, in denen Fußball nicht die Sportart Nummer eins ist. Trotzdem gewinnt der Soccer, wie er in den USA heißt, immer mehr an Bedeutung. Jim Martin, ein Stuttgarter aus den USA, Deutschlehrer und Fußballtrainer, erzählt.

Stuttgart - Jim Martin hüpft in einer Ecke der Buchhandlung Wittwer auf und ab, gibt dezente Handzeichen und bläst in eine imaginäre Trillerpfeife. Der 52-jährige Amerikaner aus Stuttgart ist Fußballfan und ehemaliger Trainer einer Schulmannschaft. Er demonstriert am Stadtschreibtisch der Stuttgarter Nachrichten, wie es aussah, wenn sein Trainer-Vorbild in den USA am Spielfeldrand stand und beinahe wie ein Dirigent seine Mannschaft befehligte.

„Er hatte alles unter Kontrolle, ganz ohne herumzuschreien“, sagt Martin über den ehemaligen Lehrerkollegen an einer amerikanischen Schule. Auch beim deutschen Bundestrainer, Jogi Löw, beeindruckt ihn die vornehme Zurückhaltung. In den achtziger Jahren hat Martin selbst eine Fußballmannschaft trainiert. Das war an einer Privatschule in Richmond, der Hauptstadt des US-amerikanischen Bundesstaats Virginia. Martin war Lehrer für Deutsch und amerikanische Literatur.

Fußball, Deutsch und Musik, das gehörte für ihn schon immer irgendwie zusammen. „Ich hatte selbst schon einen Deutschlehrer, der gleichzeitig Fußballtrainer und Musiker war. Soccer, wie der Fußball in den USA genannt wird, wurde noch Mitte der achtziger Jahre in Amerika kaum gespielt. „Wir haben uns Lehrfilme angeschaut, die ‚Soccer made in Germany‘ – Fußball, hergestellt in Deutschland – hießen, um neue taktische Inspirationen zu bekommen. Es gab damals im amerikanischen Fernsehen keine Fußballspiele.“

Eine große Rolle spielte für ihn als Trainer neben der Taktik aber auch die Fitness, ähnlich wie es beim jetzigen Trainer der US-amerikanischen Fußballnationalmannschaft, Jürgen Klinsmann, ist. „Fitness ist in den USA ein großes Thema. Zu meiner Schulzeit warst du ein Loser, zu Deutsch ein Verlierer, wenn du nicht durchtrainiert warst“, sagt er.

Doch nur Deutschlehrer und Fußballtrainer zu sein war für Martin nicht genug. Er wollte in Deutschland Zeit verbringen. Für ihn war es das Land, aus dem die klassische Musik stammte, die er so liebt. Am verschneiten 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls, entschied er spontan, nach Deutschland zu fahren.

„Ich habe dann am Weihnachtstag Beethovens neunte Symphonie im Radio gehört“, sagt er. Der Dirigent Leonard Bernstein hatte Schillers „Ode an die Freude“ zur „Ode an die Freiheit“ umgedichtet. „Als ich das hörte, wusste ich, dass ich in Deutschland leben will.“

Er kündigte seinen Job in Richmond und zog nach Freiburg, um Musik und Anglistik zu studieren – und scheiterte am Latinum. „Caesars ‚De Bello Gallico“ aus dem Lateinischen ins Deutsche zu übersetzen war dann doch zu viel“, sagt er. Doch auch dem kann Martin im Nachhinein etwas Positives abgewinnen. „Ich habe mich an der Pädagogischen Hochschule eingeschrieben und dort meine Frau kennengelernt.“ Heute arbeitet Martin als Redakteur für Englisch-Lehrbücher beim Klett-Verlag in Stuttgart und als Fotograf. Fußball spielt er nur noch mit seinem Sohn.

Das Spiel zwischen Deutschland und den USA am Donnerstagabend wird er sich zu Hause mit seiner Frau und den drei Kindern anschauen. „Wer von den Kindern welche Mannschaft unterstützt, ist noch nicht raus“, sagt er, „aber meine Frau wird wohl eher für Deutschland sein.“

Martin hätte nichts dagegen, wenn beide Mannschaften weiterkommen würden – genau das wäre bei einem Unentschieden der Fall. Aber nichts wäre für ihn so schlimm wie ein abgekartetes Spiel. „Das werden Jürgen Klinsmann und Jogi Löw auch nicht machen“, ist er sicher. Auf Klinsmann hält Martin große Stücke. „Er ist sehr glaubwürdig und ein tolles Vorbild.“ In Amerika wird Klinsmann inzwischen als „Soccer Mom“ – „Fußball-Mutti“ – bezeichnet, weil er so fürsorglich auftritt wie eine Mutter, die ihre Sprösslinge in der Familienkutsche zum Trainingsplatz fährt.

Dass Klinsmann in Stuttgart gelebt hat, macht Martin stolz. Bei der Bäckerei Klinsmann in Botnang war er aber noch nie. So weit geht die Verehrung dann doch nicht. Über Fußball spricht man dort ohnehin nicht gerne, seit die Bäckerei während der Weltmeisterschaft 2006, als Klinsmann noch die deutsche Nationalelf trainierte, von Journalisten und Fans regelrecht überrannt wurde.

Klinsmanns Geschwister schauen am Dienstag betreten zu Boden, als sich ein paar Journalisten in das kleine Ladengeschäft verirren und nach dem berühmten Bruder fragen. „Kein Kommentar“, ist die einzige Auskunft. Immerhin hängt draußen vor der Tür eine kleine Deutschland-Fahne: ein Hinweis, dass auch im Hause Klinsmann beiden Mannschaften das Weiterkommen gegönnt wird.

Die Kundschaft jedenfalls ist auch von Klinsis Integrität überzeugt. „Der Jürgen ist in Ordnung“, sagt Jörg Gaiß, der mit seiner Frau Ingeborg schnell noch ein paar Backwaren kauft, bevor der Laden über Mittag schließt. Er ist sich sicher, dass es keine Wiederholung der „Schande von Gijón“ 1982 geben wird. Damals wurde der deutschen und der österreichischen Nationalmannschaft vorgeworfen, das Ergebnis abgesprochen zu haben, damit beide weiterkommen.

An einen Sieg der Soccer Boys will Jim Martin trotz aller Liebe zu seiner Heimat nicht glauben. „Die Deutschen sind sehr stark, auch wenn man das gegen Ghana nicht sehen konnte“, sagt er. Spätestens im Achtelfinale gegen Belgien sei wohl ohnehin Schluss für die Amis.

Eines aber befürchtet Martin nicht: dass das Abschneiden des US-Teams in der Heimat nicht wahrgenommen wird. „Als die WM 1994 in den USA stattfand, haben es viele Leute nicht einmal mitbekommen. Das würde heute nicht mehr passieren.“