Aktuell herrscht eher Tristesse, womöglich aber bald wieder Euphorie: Die Stimmungslage um die DFB-Elf schwankt oft rasend schnell zwischen den Extremen. Warum ist das so?
David Raum wählt den einfachen Ansatz. Der Linksverteidiger der DFB-Elf, auch auf dem Platz eher für Schnörkellosigkeit bekannt, steht im Trainingsquartier in Herzogenaurach vor einer Sponsorenwand und hat die mögliche Lösung parat: „Wenn wir über die Mentalität kommen und die Fans spüren, dass wir alles geben auf dem Platz, wenn wir uns reinhauen und wirklich wollen, dann pushen sie uns auch und sind da für uns.“
Tja, so weit ist es also mal wieder gekommen im Herbst 2025: Die Nationalmannschaft braucht den Stimmungsumschwung. Wenig bis nichts ist in diesen Wochen mehr übrig von den tollen Gefühlen rund um die Heim-EM 2024. Die Euphorie ist der Tristesse und manchmal sogar dem blanken Entsetzen gewichen – aus guten Gründen: Von den vergangenen sechs Spielen hat die Nationalelf nur zwei gewonnen. Vor allem das peinliche 0:2 in der Slowakei Anfang September mit einem Aufritt ohne Haltung und Einstellung hallt nach. Ebenso wie die Pfiffe von Köln ein paar Tage später in der Halbzeit bei der Partie gegen Nordirland, die am Ende noch mit 3:1 gewonnen wurde. Bundestrainer Julian Nagelsmann verglich die Fans und Kritiker hinterher mit Hyänen, die im Busch darauf warteten, dass sie wieder jemanden zerfleischen können.
Die DFB-Elf will wieder Liebe spüren
Vor den beiden nächsten WM-Qualifikationsspielen am Freitag in Sinsheim gegen Luxemburg (20.45 Uhr/ARD) und am Montag in Belfast gegen Nordirland (20.45 Uhr/RTL) will die DFB-Elf den bösen Hyänen den Biss nehmen und den Herbstblues bekämpfen: Sportlich – und atmosphärisch.
Auffällig sind beim Blick auf das Stimmungsbild rund um die Nationalmannschaft die Extreme der Emotionen: Es scheint in der Fußballrepublik Deutschland mit dem Blick auf die wichtigste Mannschaft des Landes nur die totale Euphorie oder die schiere Abneigung bis hin zur Ignoranz zu geben. Mal wieder, lässt sich mit dem Blick in die Vergangenheit sagen. Denn diese krassen Gegensätze sind nicht neu.
Wie lassen sich die Gefühle erklären?
Aber wie lassen sie sich erklären? Und warum changieren Euphorie und Abneigung oft so rasend schnell?
Ein erster simpler Ansatz für die Schnelllebigkeit der Gefühle rund um die DFB-Elf hört auf den Namen Rudi Völler. Kurzer Rückblick: Im Sommer 2000 sind die deutschen Rumpelfüßler nach dem Vorrunden-Aus bei der EM in Belgien und den Niederlanden in aller Munde. Die Stimmung im Land ist am Tiefpunkt – bis Rudi Völler als Teamchef zum ersten Mal an der Seitenlinie steht. Ein paar Wochen nach dem EM-Aus trifft das gedemütigte Team in Hannover auf Spanien. Schon vorher herrscht im Niedersachsenstadion Euphorie pur: Wegen Rudi Nationale. Wegen Völler, dem Volksheiligen. „Es gibt nur ein‘ Rudi Völler“, hallt zum ersten Mal durch ein deutsches Stadion. Sein Team lässt sich anstecken von Atmosphäre und Personenkult. Es demontiert die Spanier mit 4:1. Die Tristesse ist der Euphorie gewichen – nach einem einzigen Freundschaftsspiel.
Im September 2023 ist die Stimmung wieder am Tiefpunkt. Bundestrainer Hansi Flick wird nach dem 1:4 in Wolfsburg gegen Japan entlassen. Völler, Weltmeister 1990 und seit Februar 2023 DFB-Sportdirektor, übernimmt für eine Partie als Coach gegen Frankreich. Seine Elf gewinnt mit 2:1 und dreht die allgemeine Stimmung damit wieder – in 90 Minuten plus Nachspielzeit.
Soll heißen: Oft reichen Kleinigkeiten (oder die richtigen Personen zur richtigen Zeit), um aus der Tristesse über Nacht plötzlich wieder Euphorie zu machen.
Beispiele für das rasante Wechselspiel der Emotionen gibt es zuhauf beim Blick auf die DFB-Elf. Im März 2006 will das Fußballland den Teamchef Jürgen Klinsmann nach dem desaströsen 1:4 in Florenz gegen Italien zurück in dessen Wahlheimat Kalifornien schicken: One way, also ohne Rückflugticket nach Deutschland. Dort beginnt drei Monate später das Sommermärchen. Klinsmann ist nach Platz drei und begeisternden Auftritten der gefeierte Held.
Auch vor der WM 2014 ist die Stimmung schlecht
Acht Jahre später, bei der Vorbereitung auf die WM 2014 in Brasilien, ist die Stimmung wieder schlecht. Schon damals gibt es laute Stimmen, wie entrückt und abgehoben die DFB-Elf unter ihrem Manager Oliver Bierhoff doch inzwischen sei. Es gibt im Trainingslager in Südtirol einen tragischen Unfall bei einem vom Autosponsor initiierten Rennen; ein Urlauber aus Thüringen, der zuschaut, wird schwer verletzt. Viele Stammkräfte sind kurz vor dem Turnier nicht fit. Ein paar Wochen später ist die Elf von Joachim Löw der gefeierte Weltmeister.
Auch der aktuelle Bundestrainer Nagelsmann hat alle Facetten der Emotionen im wohl wichtigsten Fußballamt des Landes kennengelernt. Im November 2023 liegen er und sein Team nach dem peinlichen 0:2 in Wien gegen Österreich am Boden. Der öffentliche Tenor: Bis zur Heim-EM im Sommer 2024 kann das doch alles nichts mehr werden. Acht Monate später entfacht das DFB-Team das Feuer im Land neu. Deutschland liebt seine Nationalmannschaft wieder. Und das Land weint mit, als Nagelsmanns Team im Viertelfinale in Stuttgart unglücklich an Spanien scheitert.
All diese Beispiele zeigen: Es braucht die richtigen Maßnahmen und dabei oft radikal veränderte Strategien, um das Fußballvolk nach Talsohlen und Stimmungstiefs hinter sich zu vereinen. Gerne auch kurzfristig. Und dann braucht es als zweiten, entscheidenden Schritt: Siege. So einfach und banal ist das. Nichts anderes zählt: Durch Erfolg entsteht Euphorie.
Was dabei andersherum betrachtet auffällt: Im Misserfolgsfall sind die negativen Emotionen in Deutschland, wo das Schwere generell eher zum Kulturgut gehört, noch mehr zu spüren als anderswo. So werden der Nationalelf Niederlagen und schwache Leistungen seit ein paar Jahren nicht verziehen – zumindest nicht bis zum nächsten Sieg. Denn: Durch ihre Abgehobenheit rund um die WM 2018 mit Bierhoff und dem damaligen Bundestrainer Löw an der Spitze sowie die verheerende Außenwirkung rund um die Wüsten-WM 2022 in Katar und das Thema Menschenrechte hat das DFB-Team nachhaltig Kredit verspielt. Auch wenn mit Nagelsmann längst ein anderer Trainer mit vielen neuen Spielern am Werk ist.
Nur Siege können da helfen – auch jetzt: Am 11. Juni beginnt die WM in den USA, Kanada und Mexiko. Zeit, dass sich was dreht. Mal wieder.