Betrieb mit seiner Buchhandlung auch eine Tank- und Raststätte für den Geist: Wendelin Niedlich Foto: Literaturhaus/LS

Wendelin Niedlich und seine Bücherstände gehörten viele Jahre lang in Stuttgart zu einem guten Theaterabend. Theatermacher äußern sich zum Tod des Buchhändlers.

Stuttgart - Die Liste reicht von H. C. Artmann, der im Januar 1994 Wendelin Niedlichs literarischen Salon im Schauspielhaus einweihte, bis zu Anne Weber, die im Sommer 2005 nach Stuttgart kam. Wie ein Who is Who der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur liest sich die Aufzählung von Niedlichs Gästen, Autoren wie Ilse Aichinger, Peter Bichsel, Ernst Jandl bot der Buchhändler im Oberen Foyer eine Bühne.

Friedrich Schirmer: Niedlich war Vorläufer für das Literaturhaus

Friedrich Schirmer war einer der Stuttgarter Schauspielintendanten, für die es ein Gewinn war, Niedlich im Haus zu haben. „Es war die legendärste und am besten geführte Theaterbuchhandlung im deutschen Raum“, sagt Schirmer, aktuell Intendant an der Esslinger Landesbühne. „Niedlich war ein stiller Anwalt der Literatur.“ Als der Buchhändler den Intendanten einmal anpumpen wollte, war das die Geburtsstunde des literarischen Salons. „Mit dieser Reihe hat Wendelin Niedlich gezeigt, dass Literatur einen Platz in Stuttgart braucht. Sein Salon war, das kann man sicherlich sagen, der Vorläufer des Literaturhauses“, betont Schirmer.

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In seinem persönlichen Archiv bewahrt der Schauspielintendant einen Brief auf, in dem Niedlich 1998 die Trauer über den Verlust seiner Buchhandlung fixierte. „Seit gestern ist der Laden leer wie die Köpfe jener, die es nicht verhinderten“, schrieb der heimatlos gewordene Buchhändler. Und: „Von allen Künsten ist nun mal die Literatur, und da besonders das Buch, das empfindlichste oder besser empfindsamste Medium von allen möglichen und unmöglichen Angeboten des Marktes, das stillste in jedem Fall.“

Werner Schretzmeier: Niedlich belesen und bestens vernetzt

Auch im alten Theaterhaus in Wangen betrieb Niedlich lange einen Buchstand. „Er hat Lesungen organisiert und war bestens vernetzt. Das große Repertoire an Menschen, die er ansprechen konnte, hat indirekt auch dem Theaterhaus geholfen“, sagt dessen Leiter Werner Schretzmeier – und erinnert an das authentische Naturell Niedlichs. „Es gab Tage, da konnte er eine Seele von Mensch sein, an anderen war er relativ ungenießbar und hat das nie versteckt. Auch dass er ein extrem profundes Wissen über Literatur besaß, wusste er und ließ einen das auch spüren.“ Schretzmeier fasst den Verlust zusammen. „Wendelin Niedlich war ein Kulturereignis auf zwei Beinen.“

Peter Grohmann: Wendelin Niedlich zeigte seinen Standpunkt

Dass eine für das kulturelle und politische Leben der Stadt prägende Figur wie Niedlich so leise aus ihrem Bild verschwinden kann, steht für den Publizisten und Kabarettisten Peter Grohmann auch für die Tragik unserer Zeit. „Ich vermisse das zivilgesellschaftliche Engagement, für das er stand. Ihm war wichtig, einen Standpunkt und -ort in der Stadt zu haben und das auch zu zeigen.“

Michael Propfe: Niedlich war ein Bücherkellermeister

Auch Friedrich Schirmers Stuttgarter Stellvertreter und Chefdramaturg Michael Propfe sieht im Tod von Wendelin Niedlich das Ende einer Zeit. Er schreibt uns: „NIEDLICH TOT? EIN JAMMER. Nein – ein unersetzlicher Verlust. Hier geht jetzt wirklich ein Zeitabschnitt unwiderruflich zu Ende. Eine ganze Gattung stirbt aus: die der Höhlenbewahrer, der Bücherkellermeister. Ich kannte nur zwei solcher extraterrestrischen Orte: einer war die Heinrich-Heine-Buchhandlung in Berlin, unter der Bahnunterführung am Bahnhof Zoo (sie ist schon lange tot), und eben Wendelin Niedlichs Buchladen in Stuttgart. Für Bücherliebhaber waren das die beiden vielleicht bedeutendsten Tankstellen (und Raststätten!) auf der literarischen Landkarte Westdeutschlands.

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Kein Buch war vor Wendelin Niedlich sicher (also: kein ernst zunehmendes), um nicht die Bücherhöhle weiter zu füllen, kein Autor (die männliche Dominanz war noch weitgehend ungebrochen), der nicht umzirzt und umgarnt wurde für eine Lesung, erst in seinem Laden, später, als es den schon nicht mehr gab, im Schauspielhaus. Dort ließ sich, nebenbei, der erweiterte Begriff eines Tisches bestaunen. Was da Büchertisch hieß, war eben auch wieder: eine Art Höhle, die mit Druckwerken lockte, von denen man bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht wusste, dass es sie gab. Und wer bei ihm las, wurde, durchaus nicht selbstverständlich – wie sagt man heute? – auf Augenhöhe begrüßt und gewürdigt. Daher: Ein Buch, bei Niedlich gekauft, hatte schon seine Geschichte, ehe man auch nur die erste Seite aufgeschlagen hatte. Denn es war gesättigt von dem paradiesischen Aroma aller anderen seiner Gattung, aus deren Zusammenhalt es kam.

Keine App kann diese verlorenen Orte ersetzen, oder ihre Hüter. Tempi passati.

Adieu, Wendelin.“