Harald Wohlfahrt Foto: dpa

Gerücht, man dürfe in Spitzenrestaurants nicht vom Nebenteller kosten, ist hartnäckig.

Stuttgart - Gut essen gehen, ohne beim Partner zu naschen? Für die meisten Paare ist das undenkbar. Sie schnabulieren, bis die Gabel tropft. Doch angeblich wird das in Spitzenrestaurants nicht gern gesehen. Wirklich nicht?

Zwei "feinschmeckende" Ehegatten, so hat der Philosoph Brillat-Savarin einmal bemerkt, haben auch dann Gelegenheit zur Vereinigung, wenn einer von beiden Kopfschmerzen hat. Das gemeinsame Mahl, das Plaudern darüber, was sie gegessen haben oder noch essen werden, so schwärmt der Franzose, trage doch "viel zum Lebensglück" bei.

Gott sei Dank hat sich die Welt seit dem 18. Jahrhundert kaum verändert. Das Tête-Õ-Tête am Restauranttisch gehört auch heute noch zu den beliebtesten Vergnügungen zweier Menschen, die sich mögen. Auch die "kleinen Aufmerksamkeiten", die Brillat-Savarin ausdrücklich erwähnt, haben sich erhalten: Man lässt sein Gegenüber gern vom eigenen Teller naschen.

"Hmmm, diese Dorade, möchtest du probieren?", fragt sie huldvoll und gabelt einen Bissen für ihn auf, während er versucht, seinen Risotto unfallfrei über den Tisch zu balancieren. "Darf ich?", flötet sie derweil am Nachbartisch, und man sieht, wie ihr Dessertlöffel in Papayaschaum eintaucht.

Es soll Paare geben, die das zum Prinzip erheben und grundsätzlich nur verschiedene Menüs bestellen. Bisweilen kommt es zwar zu Unstimmigkeiten, wenn sie etwa faucht: "Kann ich vielleicht erst mal essen?" Doch meistens entfaltet sich ein wilder Tauschhandel - bis hin zur waghalsigen Übergabe kompletter Tellergerichte.

Gastronomen fürchten Rufschädigung

Irgendwie muss dieses Geschnäbel Anstoß bei gastronomischen Sittenwächtern erregt haben. Denn auf Partys kursiert seit einiger Zeit das Gerücht, solche Übergriffe würden nicht gern gesehen - jedenfalls nicht in den sternegekrönten Restaurants. Mal behauptet einer, er habe bei Klaus Erfort (Gästehaus Erfort) auf seiner Rechnung lesen müssen: "Bitte beehren Sie uns nicht wieder!", und dann auf Nachfrage erfahren, seine Tischmanieren entsprächen nicht dem Anspruch des Hauses. Dann wieder empört sich ein Zeitgenosse im Internet, er habe bei Joachim Wissler (Schloss Bensberg), wahlweise bei Juan Amador (Amador) oder Harald Wohlfahrt (Traube Tonbach) eine Rote Karte erhalten.

Vorgezeigt hat eine solche Abmahnung allerdings noch niemand, und auch die mündlichen Rügen, angeblich vom Restaurantchef direkt erteilt, werden nur über zwei oder drei Ecken kolportiert. Trotzdem hält sich das Gerücht hartnäckig, und die Gastronomen sehen darin nicht nur eine Belästigung, sondern sogar eine Rufschädigung. Kurzum: Sie sind sauer.

"Bei mir fragen besorgte Gäste an, ob das denn stimmt", ärgert sich Drei-Sterne-Koch Harald Wohlfahrt und vermutet dahinter ein Schneeballsystem: "Da kommt ein Kollege nach dem anderen dran." Was den Wahrheitsgehalt angeht, lässt der Baiersbronner keine Zweifel aufkommen: "Wir haben in Jahrzehnten noch nie einen Gast gemaßregelt und würden das auch niemals tun - das ist doch genussfeindlich." So oder ähnlich äußern sich viele seiner Kollegen und Restaurantchefs. "Warum sollte ich das denn tun?", fragt der Stuttgarter Spitzenkoch Claudio Urru (Top Air), "die Gäste sollen sich doch wohlfühlen."

Fernsehkoch Johann Lafer (Le Val d' Or, Stromburg) hat im vergangenen Jahr sogar 3000 Euro Belohnung ausgesetzt, um in den Besitz einer solchen Ermahnung zu kommen. Angeblich erhielten einige Gäste einen blauen Brief mit dem Vorwurf, sie hätten im Teller ihres Tischnachbarn herumgestochert, das sei unschicklich. "Wir warten immer noch", sagt eine Mitarbeiterin und versichert, jeder dürfe bei Lafer nach Herzenslust probieren und sogar die Teller tauschen.

Ist also die Geschichte nichts als eine Urban Legend, eine Stadtlegende, die auf Partys ihre Runde macht? Der Innsbrucker Ethnologe Wolfgang Morscher hat Hunderte von ihnen aufgeschrieben, so etwa die Story vom Riesenwels im Stadtweiher, der den Dackelwelpen einer alten Dame frisst. Auch die Restaurant-Rüge hat er bereits in seiner Sagensammlung - alle Tellerwanderer können also aufatmen.

Wohlfahrt nascht selbst gern vom Nachbarteller

Doch gänzlich aus der Luft gegriffen ist die Sache dann wohl doch nicht. "Ich glaube, dass das vorkommt, wenn auch sehr selten", meint Elisabeth Bonneau, die sich mit Büchern über gutes Benehmen einen Namen gemacht hat ("Der große Tisch-Knigge"). Nun ja, es entspreche eben nicht ganz der Etikette, wenn die Pizzaschnitte bei der Übergabe die Salamischeibe verliert. Oder wenn sich der Gast mit tropfendem Besteck quer über den Tisch beugt.

Hinter vorgehaltener Hand räumt auch der eine oder andere Restaurantchef ein, man könne nicht bei jedem Kunden eine tadellose Kinderstube erkennen. Doch deshalb jemanden maßregeln? "Da soll mir mal einer kommen!", sagt Knigge-Expertin Bonneau mit drohendem Unterton. Die Gastronomen sollten lieber schauen, dass sich ihre Kunden wohlfühlen. Und außerdem: Wer kann sich solch eine Rüge leisten? Die Gäste würden niemals wiederkommen.

Harald Wohlfahrt von der Schwarzwaldstube in der Traube Tonbach, einem der besten Restaurants der Welt, sieht auch einen ganz praktischen Grund für den gelegentlichen Essenstransfer: "Es ist doch oft so, dass die Herren größere Portionen vertragen als die Damen. "Warum also soll sie von den drei Rehmedaillons eines auf ihrem Teller lassen, während er noch eines verträgt?"

Wohlfahrt jedenfalls kann sich bei Tisch nur schwer zurückhalten und schielt grundsätzlich nach dem Essen seiner Frau: "Ich frage oft nicht, sondern greife einfach zu."

Die wichtigsten Benimmregeln

Eigentlich gilt der Grundsatz: Damit nichts runterfällt, bleibt jeder auf seinem Terrain. Das bewährt sich vor allem in größerer Gesellschaft und an großen Tafeln, wo das Weiterleiten von Bratenstücken zu peinlichen Situationen führen kann.

Wer Wert auf tadellose Etikette legt, dem empfiehlt Benimmberaterin Elisabeth Bonneau, den kleinen Brotteller zu verwenden, der in guten Restaurants an jedem Platz steht: "Legen Sie das Stück Taubenbrust darauf, und geben Sie es so weiter."

Selbst Spitzenrestaurants sind dem Gast aber mittlerweile behilflich bei solchen Transaktionen: Man reicht ihm auf Wunsch gern zusätzliches Besteck oder ein weiteres Gedeck. Auch der Tausch von Tellern erregt keineswegs Unwillen.

Tischsitten hatten früher vor allem eine soziale Funktion: Wer sie beherrschte, konnte sich von den Unkundigen abgrenzen. Das machte sich vor allem der Adel zunutze, der damit das aufstrebende Bürgertum auf Distanz hielt.

Manche Regel hat aber auch einen praktischen Sinn. So sollte man Fisch nicht mit dem scharfen Fleischmesser zerteilen, weil man so Gefahr läuft, eine Gräte abzuschneiden und diese mitzuessen. Das stumpfe Fischmesser vermeidet dies. (ari)