Isoliert und alleine: In einem leeren Schaufenster bricht Viola Lea Marien am Ende zusammen. Foto: Eyrich

"Normalabstand" – den wünschen sich wohl alle, seit eine Pandemie die Menschen auseinander gerückt hat. Was macht das mit ihnen? Die Kleinkunstbühne K3 hat es untersucht – für ein großartiges Stationentheater.

Winterlingen - Wie schön Winterlingen ist, wenn man durch die autofreien "Winkele" streift, vorbei an idyllischen Gärten und schnuckeligen Häusern, an einem Abend, an dem das Wetter idealer nicht hätte sein können: Das ist die erste Erkenntnis der Premiere des Stationentheaters "Normalabstand". Doch bei weitem nicht die einzige.

 

Für das Projekt, das Evelin Nolle-Rieder als Leiterin der Kleinkunstbühne K3 zusammen mit der Regisseurin Laura Tetzlaff konzipiert hat, haben die Beteiligten untersucht, wie sich Hygienemaßnahmen, Einschränkungen und soziale Distanz während der Coronavirus-Pandemie auf die Menschen als soziale Wesen, auf die Gemeinschaft auswirken, wie sie im begleitenden Faltblatt schreiben. Sie haben Menschen nach ihren Erlebnissen, nach ihrer Wahrnehmung, nach ihren Gefühlen befragt – vor allem solche, die in der öffentlichen Wahrnehmung wenig sichtbar seien: Kinder, Jugendliche, Senioren – und Frauen mit Mehrfachbelastung.

Über Winkele-Wege mittenrein ins Thema

Vom Startpunkt Rathaus wäre es zwar nur ein Katzensprung zum leeren Schaufenster gegenüber, der ersten Station. Dennoch führen Nolle-Rieder und die anderen Tour-Begleiter des bewusst in Kleingruppen aufgeteilten Publikums erst durchs malerische "Schul-Winkele", das blühende Rosen säumen.

Umso verstörender ist der Auftritt der Profi-Tänzerinnen Lea-Katharina Krebs und Viola Lea Marien an der ersten Station. Mit Gehörschutz auf den Ohren, um sich ganz auf den pantomimischen Tanz konzentrieren zu können, beobachten die Zuschauer, wie zwei junge Mädchen die Phasen der Pandemie erleben. Erst schreiten sie stumm in ihren Glaskästen herum, werden später aktiver, wollen ausbrechen, strecken sich, erschrecken sich, entdecken sich gegenseitig, werden wütend und verzweifelt, weil sie nicht zueinander kommen – und brechen schließlich weinend zusammen, resignieren. Die Gesichter der Zuschauer nach der ausdrucksstarken Darbietung sprechen für sich: Ja, genauso hat sich ein Lockdown angefühlt.

Durchs "Rössle-Winkele" geht es zu einer Station, die so unscheinbar wirkt und doch so sehr zu ergreifen vermag: Im Saal von St. Gertrud sind die Tische liebevoll gedeckt. Kaffeegeschirr und Hefezopf warten darauf, benutzt und verschmaust zu werden. Aber wo sind die Senioren? Die Zuschauer blicken sich ratlos um. Sie sind nicht da, und dennoch zu hören, denn Tetzlaff und Nolle-Rieder haben ihre Stimmen eingesammelt und zu einer ergreifenden Klang-Collage gemixt. Erst erzählen einzelne, breit Älblerisch, von Seniorennachmittagen, wie sie vor der Pandemie waren. Ein paar von ihnen singen, eine Drehorgel spielt. Jetzt erzählen die Senioren von ihrer Isolation, vom Enkel, vom Verein, die ihnen fehlen, von Sorgen, von Schmerzen, vom Alleinsein.

Immer dichter wird die Klangkulisse, wie in einer voll besetzten Festhalle. Und doch: Die Tische bleiben leer, der schöne Hefezopf unberührt, die Schoko-Käfer verschont. Nur die Fotoalben mit Bildern von früher vermitteln einen Eindruck davon, wie es einst war.

Kindermund im O-Ton auf dem Klettergerüst

Die dritte Station ist nicht weit: Auf dem Spielplatz der Grundschule hängen die Kinder – jedes für sich – herum, wissen nichts mit sich anzufangen. Und begegnen sich doch, schreien sich an: "Wir dürfen uns nicht mischen!" Auch ihre Dialoge seien Original, sagt Evelin Nolle-Rieder. Die Zuschauer erfahren, dass es anfangs "supercool" für die Kinder war, nicht in die Schule zu müssen, aber durchweg blöd, nicht mit den Freunden spielen zu dürfen. Je länger es dauerte, desto mehr haben sie die Schule vermisst – und sich über die Corona-Regeln gewundert: "Das versteht keiner: Man muss eine Maske tragen, wenn man in den Laden geht, aber in Urlaub fahren darf man immer noch." Am einen Tag müsse man zur Schule, am anderen dürfe man nicht. Und im Chor rufen sie: "Wann können wir endlich wieder schwimmen gehen?"

Ebenso bemerkenswert wie die Fülle der Gedanken über die Pandemie, ihr Entstehen und ihre Auswirkungen, ist die Choreographie: Das große Klettergerüst bespielen die Jugendlichen aus den K3-Jugendgruppen perfekt, und selbst Emi, die älteste Akteurin, die mit ihren 71 Jahren ein Kind spielt, klettert behände darauf herum, garniert ihr Spiel mit trotziger Mimik.

Wieder geht’s durch ein Winkele, und siehe da: Auf einem Traum von einem Baum sitzt eine Frau und singt zur Ukulele über ihre Corona-Phasen: Erst mal die Ruhe entdecken, dann die Schnauze voll, kein Impftermin zu kriegen, und "z’mal wird’s mir Angst und bang – Corona bleibt jahrelang".

"Manchmal denke ich, die fressen mich auf!"

So viel Zeit zum Nachdenken hat die schwer beladene Mutter mit dem Klopapier unterm Arm nicht. Ihre "nervigen Kinder" halten sie – neben dem Beruf und der Hausarbeit – auf Trab, "und manchmal denke ich, die fressen mich jetzt einfach auf!". Zwei Mädels auf der Mauer sind nur noch sauer: Was sie "am meisten ankotzt"? "Dass ich meinen 18. Geburtstag nicht feiern konnte." Die Freundin weiß, wie sich das anfühlt: "Da arbeitet man jahrelang auf seinen Scheiß-Abschluss hin", und dann falle die Abi-Feier flach. "Socially awkward" fühlen sie sich. Gesellschaftlich irgendwie aus dem Lot.

Für die junge Frau, die keiner sieht, gilt das in Hochpotenz. Am Handy versucht ihre Freundin sie aus dem Haus, das nur ein paar Meter weiter steht, zu locken: "Du bist noch im Schlafanzug?! Bitte, gib’ Dir ’nen Ruck, zieh’ Dich an!" Solche Telefonate, wie die letzte Station sie thematisiert, hat wohl jeder der Zuschauer seit März 2020 schon geführt. Sie dürfen am Ende Punkte kleben, ihren Alltag unter Corona – und ihre aktuelle Unsicherheit im Umgang mit Mitmenschen – bewerten, aufschreiben, welche Gefühle sie begleiten und was ihnen geholfen hat, wenn es ihnen schlecht ging, so alleine zu Hause.

Die Applausrakete fällt aus – räumlich bedingt

Am Ende des Stationentheaters freilich geht es allen gut, wie die Gesichter verraten. Ergriffenheit, Verstörung, Nachdenklichkeit ist darauf gezeichnet. Aber auch Freude darüber, dass das alles bald vorbei sein könnte und der "Normalabstand" irgendwann wieder Normalität wird. Vor allem aber: Begeisterung über ein grandios umgesetztes Theaterprojekt, für das die Zuschauer Laura Tetzlaff, Evelin Nolle-Rieder, Ausstatterin Katharina Müller und allen Akteuren gerne applaudieren möchten. Aber die sind ja über den unerwartet idyllischen Winterlinger Ortskern verteilt.n Die Schauspieler: Laura Sauer, Selma Bel Hadj, Selina Bley, Paul Briese, Gunda Bodmer, Inken Conzelmann, Fabian Gvozdenac, Charlotte Hagg, Lejla Kicin, Julia Kromer, Jakob Lorenz, Nicole Lumma, Paula Raible, Pia Rodono, Lorena Saible, Emilie Stingel und Alexandra Volkov. Musik: Petra Pfaff-Fellinger. Ton und Technik: Stephan Hartmann, Uwe Stotz, Jakob Lebherz und Laurin Louis Willems.n Weitere Aufführungen beginnen am Freitag, 9. Juli, und Samstag, 10. Juli, um 19 Uhr sowie am Sonntag, 11. Juli, um 14 Uhr. Karten: www.kleinkunstbuehnek3.de