Astrid Meyerfeldt als Maria Teresa Marcantonio und Michael Rastl als Vater Augusto Giuseppe Garibaldi Marcantonio. Foto: dapd

Im Probenzentrum Nord studieren Oper und Schauspiel eigentlich ihre Stücke ein, am Wochenende eröffnete dort aber das Theater eine Interimsspielstätte.

„Der Garten der Lüste“ – auf mehrere Meter aufgespannt nimmt die Abbildung von Hieronymus Boschs Triptychon eine Wand ein im Foyer der neuen Ausweichspielstätte. Ein hoher dunkler Raum, mit rotem Samt, Schauspielerporträts, Stühlen und Lüstern, die man aus der Interimsspielstätte Türlenstraße kennt. Ein gelungen heimeliger Ort. Hier im Probenzentrum Nord am Pragsattel wird man es bis März gut aushalten, bis dahin sollen die Ausbesserungsarbeiten des Sanierungspfuschs im Schauspielhaus fertig sein.

Tolles Timing, was die Premieren zur Saisoneröffnung betrifft: west-östlicher Showdown, Familiendrama, Ideologiediskurs und homosexuelle Kinder jeweils inklusive. Eine Uraufführung der russischen Dramatiker Presnjakow auf der kleinen Studiobühne Nord (siehe Kritik unten) befasste sich mit Salman Rushdie, der in dieser Woche seine Memoiren herausgebracht hat. „Ratgeber für den intelligenten Homosexuellen zu Kapitalismus und Sozialismus mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“, ein kürzlich in Mannheim erstmals auf Deutsch aufgeführtes Stück des US-Amerikaners Tony Kushner, eröffnete am Freitag die neue, fast voll besetzte Interimsspielstätte Große Bühne Nord.

Auch hier im Mittelpunkt: ein großer alter Mann, der sich ein Leben lang an Ideologien abgearbeitet hat. Gus, Gewerkschafter und Kommunist, erkennt, es hat alles nichts gebracht. Jetzt will er doch hübsch kapitalistisch das Haus verkaufen, bevor die Immobilienblase platzt, und dann sich selbst aus dem Leben schaffen. Denn ein Leben außerhalb des seit Generationen im Familienbesitz befindlichen Anwesens erscheint ihm unmöglich. So weit der krude Plan. Seine Kinder und die Schwester sind erst mal nicht sehr begeistert, beginnen aber bald, sich über ganz andere Dinge zu streiten, zu brüllen, zu fluchen bei diesem Gespräch in Papas Garten.

Papageien auf den Bäumen, Raubkatzen im Unterholz

Und der sieht so aus: Papageien auf den Bäumen, Raubkatzen im Unterholz. Ein den kompletten Bühnenraum umspannendes Gemälde (Bühne: Katrin Nottrodt). Ein Paradies mit Bergen, See, Rehen, Bäumen, die sich im Realen fortsetzt mit Baumstämmen, Topfpflanzen, Rollrasen, nierenförmigen Wasserpfützen und Apfelbaum der Erkenntnis.

Zu idyllisch, um so zu bleiben. Dabei wäre das eine grandiose Überraschung gewesen, wenn das Äußere mal nicht möglichst sinnfällig das Innere der Figuren widerspiegeln müsste. So aber – eine Stunde zwanzig, bis zum ersten Mal ein Tisch durch den Garten geworfen wird. Von wem? Von Sohn Vito (Markus Lerch), dem ideologisch weit vom Familienstamm abgefallenen Bauunternehmer in Cargohosen und kariertem Hemd. Geistig nicht der Hellste, aber immer da, wenn’s am Haus etwas zu reparieren gibt. Vito ist sauer, weil Papa das Haus nicht ihm allein, sondern allen drei Kindern vermachen will.

Vito und seine Gattin Sooze Moon (Dorothea Arnold mit aufgeklebten Wangenpolstern, hysterisch kichernd) werden im Lauf des zweieinhalbstündigen Abends noch öfter handgreiflich. Das Getümmel wirkt in der Wiederholung hilflos, Regisseur Thomas Dannemann tut sich schwer mit dem Gesprächsdrama. Es eignet sich ohnehin eher für eine Verfilmung mit Close-ups und Splitscreens, es wird ja vor allem viel geflucht und durcheinandergeredet.

Michael Stiller als Adam tritt auf wie der erste Mensch im Paradies

Bei dem Familientreffen geht es bald nicht mehr nur um den lebensmüden Alten, sondern um die sexuellen Verwirrtheiten der Kinder, die von dem Ensemble häufig brüllend und kaum verständlich, aber doch mit Wut und Spiellust interpretiert werden: Astrid Meyerfeldt in klassenkämpferischem Rot auf hohen Hacken staksend, spielt die energische verpeilte Tochter Empty, Daddys Darling wäre sie zu gern, die Arbeiteranwältin ist dem Alten aber nicht radikal genug. Divenhaft schwule Posen auskostend: Marco Albrecht als Sohn Pill, ein seinem jungen Lover Eli (Jan Krauter, cool und sicher auf seinen High Heels) hinterherschmachtender Geschichtslehrer. Pill betrügt Ehemann Paul (Rainer Philippi) ebenso konsequent wie seine Geschwister ihre Liebsten. Der mackerhafte Vito nämlich hat es sich – anders als abgemacht – als Samenspender nicht nehmen lassen, Maeve (Marietta Meguid), Freundin seiner Schwester Empty, höchstpersönlich zu schwängern. Empty wiederum betrügt Maeve mit ihrem eigenen Ex-Mann Adam. Michael Stiller als Adam tritt auf wie der erste Mensch im Paradies. Nackt, ansonsten verblüffend gut auf Robert de Niro getrimmt, so viel Anspielung auf Kushners Regieanweisungen (das Personal besteht aus Italoamerikanern) darf gern sein.

Ein neurotischer, verlorener Haufen also, ständig jammernd, von Gus nicht respektiert worden zu sein. Mehr Sympathie bringt Regisseur Dannemann für die beiden Senioren auf, Gus und Schwester Clio. Angelika Böttiger ist eine herrlich lakonische alte Sinnsucherin, unerschütterbar und geradlinig. Michael Rastl spielt Gus nicht als trotteligen Pensionär, der mit ollen Klassenkampfkamellen nervt. Gus ist störrisch und rechthaberisch, aber auch klug und überlegen. Immerhin hat er für etwas gekämpft – die Verbesserung der Situation der Arbeiterschaft. Dass die jungen Kollegen von dem Deal ausgenommen waren, wurmt ihn bis heute. Einer dieser jungen arbeitslos gewordenen Arbeiter hat sich bereits umgebracht.

Bei Kushner erklärt dessen Witwe, wie man sich erfolgreich selbst das Leben nimmt. Bei Dannemann wird diese Spur getilgt, sie würde Gus’ ohnehin fragwürdig selbstloses Suizidangebot noch kleiner machen. Nicht gerichtet, aber auch nicht gerettet wird der alte Klassenkämpfer in dieser bei aller Aufgedrehtheit nachdenkenswerten Familiendemolage.