Szene aus „Wunderzaichen“ mit André Jung (ganz rechts) Foto: A.T. Schaefer

Die erste Oper des in Berlin lebenden Franzosen Mark Andre bietet zwei leise, feine Hör-Stunden zum Genießen. Ob „Wunderzaichen“ wirklich Theater sein will, ist allerdings zu bezweifeln – auch wenn Jossi Wielers und Sergio Morabitos Inszenierung alles tut, um das Gegenteil zu beweisen.

Die erste Oper des in Berlin lebenden Franzosen Mark Andre bietet zwei leise, feine Hör-Stunden zum Genießen. Ob „Wunderzaichen“ wirklich Theater sein will, ist allerdings zu bezweifeln – auch wenn Jossi Wielers und Sergio Morabitos Inszenierung alles tut, um das Gegenteil zu beweisen.

Stuttgart - Traum oder Wirklichkeit? „E sogno? O realtà?“, fragt singend der eifersüchtige Ehemann in Giuseppe Verdis „Falstaff“. Diese Oper hatten wir in Stuttgart schon, aber die Frage stellt sich bei der großen Uraufführung dieser Saison erneut und noch viel dringlicher. Können wir unseren Ohren trauen? Und dem, was unsere Augen sehen? Und wenn nicht – was dann?

Auf der Bühne: ein Flughafen. Eine Warteschlange. Beamtinnen drücken an Schaltern Stempel auf Papier. Ein Putzmann kommt mit Eimer und Wischmopp, hinten sitzen zwei Stewardessen, und man sieht durch große Fensterscheiben hinaus auf das Rollfeld. So weit, so bekannt. Aber irgendetwas stimmt nicht. Über die Szene legt sich ein Dunst, der unsichtbar, aber spürbar aus dem Orchestergraben aufsteigt und aus den Lautsprechern kommt, die im Opernhaus an den Wänden verteilt sind.

Klänge hüllen das Bild in Watte und heben es auf eine Traumebene. Die Musik zu „Wunderzaichen“ ist leise, sehr schön, sie besteht aus vielen kleinen Einzelteilen, und sie bringt Unterschiedliches zusammen: Geräusch und Klang, Gesungenes und Gesprochenes, harten Puls und weiche Harmonien, live Gespieltes und technisch Weiterverarbeitetes, akustische Impulse und transformierte Echowirkungen. Manchmal kann man die Gegensätze nicht voneinander unterscheiden, manchmal kann man die Orte der Klänge nicht ausmachen. Dann mag man seinen Ohren nicht trauen.

Jossi Wieler und Sergio Morabito haben am Sonntagabend in der Oper Stuttgart „Wunderzaichen“ ins Bild gesetzt. Sie haben gut zugehört, und sie greifen auf, was der Komponist Mark Andre in seiner Partitur vorgibt. Auch die Bilder ihrer Inszenierung haben eine Seite, die wirkt wie in Watte verpackt: eine Kehrseite, die ein Traum sein könnte oder ein böses Erwachen. Plötzlich ziehen – so sieht es die Partitur vor – die Menschen, die vor der Passkontrolle warten, Bassbögen aus ihren Gewändern, und wenn sie mit diesen sanft über ihre Ärmel streichen, klingt das fast wie menschlicher Atem. Wieler und Morabito bewegen die Statisten und die wieder sensationell präzise spielenden und singenden Sänger des Staatsopernchores, deren Gewänder sie als Vertreter unterschiedlicher Religionen kennzeichnen, dazu im Dreiertakt der Musik: Ekstase an einem der profansten aller denkbaren Orte. Später lassen sie skurrile Figuren auftreten, suchende, einsame Gestalten. Dann mag man seinen Augen nicht trauen.

Vor allem in der letzten der vier Szenen, deren statischen Charakter Mark Andre betont, indem er sie als Situationen bezeichnet, ist dem Stück das Theater fast gänzlich ausgetrieben: Das Bild erstarrt, der wunderbare Tenor Matthias Klink gibt einen Engel, der die erfrorenen Flügel hängen lässt, und die Musik, vor allem der Chor, lässt Klangwogen auf- und nieder wallen.

Situationen: Der Begriff spricht für sich. Es gibt keine durchgehende Handlung. Dabei hat doch einer der Beteiligten etwas durchaus Wirkliches und Handfestes: André Jung, dieser wunderbar wandelbare, exzellent sprechende Schauspieler, gibt eine Figur, der dem Humanisten Johannes Reuchlin nachempfunden ist. Gegen den Geist seiner Zeit, des 15. Jahrhunderts, predigte Reuchlin Toleranz gegenüber Andersdenkenden – vor allem gegenüber den Juden, deren hebräische Sprache er studiert hatte. Er wurde angegriffen, musste mehrfach fliehen. In der Stuttgarter Leonhardskirche liegt er begraben. Allerdings ist Jung zwar die konkreteste Figur des Stücks, aber er ist nicht Reuchlin, sondern allerhöchstens eine Imagination des Philosophen, eine Fantasie rund um dessen Ideen, angereichert mit kabbalistischer Zahlenmystik, die auch Andre nahe ist, und mit einem Hauch von Jesus.

Das macht Jung deutlich, in dem er immer wieder einen Schritt zurücktritt: als wolle er sich selbst betrachten und immer wieder neu definieren. Eine Entwicklung hätten Andres verweilende Klänge ohnehin nicht aufzeigen können, denn sie schreiten nicht voran, sondern tasten den Ton und das Zusammenklingen aus und finden innerhalb von oft fast minimalistisch anmutenden Klangbändern zu anrührend zarten Momenten.

Wie kunstvoll diese zusammengesetzt werden, kann man oft nicht hören, wohl aber im Programmheft nachlesen: Nach Israel reiste der Komponist gemeinsam mit dem Dramaturgen Patrick Hahn, der den Text zur Oper mit verfasste, und mit Joachim Haas vom ebenfalls beteiligten SWR-Experimentalstudio, und etliche akustische Bilder dieser Reise prägen jetzt das Klangbild der Oper mit.

Subtil tun sie das allerdings, so wie überhaupt sehr viel Subtiles in „Wunderzaichen“ zu hören ist, und ebenso subtil wie wach hält Sylvain Cambreling am Pult des Staatsorchesters nicht nur die zahlreichen musikalischen Fäden zusammen, sondern bringt sie immer wieder auch zu Momenten, in denen auch der nicht Neue-Musik-geübte Zuhörer Sprechendes (wie etwa das aus dem Takt kommende Herz Reuchlins vor dessen Tod), ja sogar große Gefühle in ihnen entdecken kann.

Andres Klangwelten würden zerbrechen, setzte man ihnen Widerstände entgegen. Das tut in Stuttgart auch niemand. Eine derart mehrdimensionale Bühne, die zwischen Oben und Unten, Enge und Weite changiert, hätte wohl kein anderer so passend erfinden können wie Anna Viebrock. Und Wieler und Morabito wagen kleine ironische Brechungen und sanfte Konkretisierungen nur dort, wo es der Sache dient. Genial ist die Idee, Blechbläser des Orchesters in der dritten Situation auf die Bühne zu holen, sodass man sehen kann, wie sie produzieren, was dann fast nicht zu hören ist. Dieses Bild hat fast Marthalersche Qualitäten. Kellner und Erzengel, Fast Food und Tod an der Rampe, emphatische Koloraturen (vor allem von der mit Hingabe und intensiver Farbgebung singenden Claudia Barainsky als Maria), Pathos und Distanz: Dies alles findet einen Widerhall im Bild.

Greifen lässt sich jedoch nicht Vieles. Vom akustischen Anfang des Stücks, der gleichsam aus dem Nichts kommt, bis hin zu den letzten der vielen Quintakkorde des Stücks und zu seinen letzten, geflüsterten Worten – „das Unendliche“ – will diese Oper genau das sein, was ihr Titel sagt: Wunder und Zeichen. „Welcher geschickt ist zu hören, der ist auch geschickt zu glauben“, schrieb einst Johannes Reuchlin, sagt jetzt André Jung, und für Mark Andre sind eben das Unfassbare, die metaphysische Kraft und die Transzendenz der Kunst Musik sein Lebensthema und das Thema seiner ersten Oper. Das ist die Stärke von „Wunderzauchen“ – und zugleich auch seine Schwäche.

Wer die Reise ins Innere der Klänge nicht wie Mark Andre notwendig als Reise zum eigenen Glauben begreift, und wer das, was der Dramaturg Patrick Hahn als „metaphysischen Roadtrip“ bezeichnet, nicht selbst mitmachen will, der wird spätestens bei den sehr pathetischen, ja kathetralischen Klängen am Ende eine leichte Ermattung verspüren. Auch zuvor erschöpft und wiederholt sich musikalisch Vieles, die Elektronik enthält etliche Momente des bloß Dekorativen, und Rätselhaftes und Pathetisches bilden gelegentlich gefährliche Allianzen.

Entscheidend ist aber die Frage, ob diese introvertierte Innenschau wirklich extrovertiertes Theater sein will. Sie ist eindeutig mit Nein zu beantworten.

Nochmals am 7., 16., 22. und 25. März. Karten unter 07 11 / 20 20 90.