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Roland Elsner spricht von seinem Leben mit chronischen Depressionen und warum es Männern oft schwer fällt, über Gefühle zu sprechen

Nicht weinen, immer stark sein: Gerade Männer tun sich schwer, über ihre Gefühle zu sprechen, wenn sie an Depressionen erkranken. Stefan Plaaß, Leiter der St. Georgener Selbsthilfegruppe, und Roland Elsner, ebenfalls Betroffener, erzählen wie es ist, wenn Mut und Kraft abhanden kommen.

St. Georgen. Diego wurde schwer misshandelt, bevor er in der spanischen Tötungsstation landete. Schüchtern streift der Rüde um die Beine seines Herrchens. Seit einigen Monaten lebt er bei Roland Elsner, der ihn rettete und bei dem er ein neues Zuhause gefunden hat. "Der ist brutal feinfühlig", erzählt Elsner. "Er tut mir gut. Ich muss mit ihm raus. Frische Luft, Sonnenlicht. Wenn’s mir scheiße geht, merkt er das, kommt her, will schmusen." Roland Elsner leidet an chronischen Depressionen.

Vor vier oder fünf Jahren hat alles angefangen. Ein schleichender Prozess sei das gewesen, sagt der 52-Jährige. Irgendwann hat seine Frau – seine Jugendliebe, seit seinem 15. Lebensjahr sind beide ein Paar – zu ihm gesagt: "Mit dir stimmt irgendwas nicht, du lachst gar nicht mehr." Zunächst schob Elsner alles auf die Arbeit: der Stress. "Entschleunigung war ich nicht gewohnt, ich war ein Vollgas-Typ. Ich war immer: Hier bin ich, was kost’ die Welt."

Bei seinem früheren Job in einer großen Firma erlebte er Mobbing durch den Chef. "Der wollte mich weg haben", sagt Elsner. "Ich habe gekämpft, aber niemand hat mir geglaubt." Auch körperliche Angriffe habe er erdulden müssen. Einmal habe ihm der Chef Kaffeesahne über den Kopf geleert. Die Sache ging vor Gericht, löste sich irgendwie auf. Man habe ihm danach psychologische Betreuung angeboten. "Quatsch", dachte er, "das Problem ist doch gelöst".

Sich Hilfe zu suchen, davor schreckte Elsner zurück. "Du bist ja auch ein Kerl", sagte er sich. "Man hat diese Klischees im Kopf: Du musst als Mann deine Probleme selber lösen. Schon als Kind, wenn man hinfällt, bekommt man gesagt: Ein Junge heult nicht." Er sagt, er habe nie gelernt, mit Gefühlen umzugehen, die Eltern zu umarmen, herzlich zu sein.

Irgendwann kam dann die erste Panikattacke. Platzangst im Restaurant: "Ich musste da raus." Er bekam Schweißausbrüche, hatte Todesangst. Da dachte er sich: "Scheiße, da stimmt wirklich was nicht." Der erste Weg führte zum Hausarzt, dann zu einer Fachärztin. "Die fragte mich: ›Wie gehts ihnen wirklich?‹ Da bin ich in Tränen ausgebrochen." Roland Elsner begab sich für zehn Tage in die psychotherapeutische Akutklinik. So begann sein Kampf gegen die Krankheit.

Die Krankenkasse DAK-Gesundheit hat in ihren "Psychoreport 2019" eine Langzeituntersuchung vorgestellt, nach der sich die Zahl der Krankschreibungen wegen psychischer Probleme in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdreifacht hat. Diese Krankschreibungen erreichten im Jahr 2017 einen Höchststand. Im vergangenen Jahr ging die Zahl nach stetigem Anstieg erstmals leicht zurück. Der häufigste Grund für die Fehlzeiten: Depressionen. Gefolgt von Anpassungsstörungen, neurotischen Störungen und Angststörungen. In Baden-Württemberg gab es laut DAK im vergangenen Jahr mehr Betroffene mit psychischen Erkrankungen als jemals zuvor.

"Die Versorgungssituation ist sehr schlecht", sagt Ines Keck, die seit Mai 2018 in der St. Georgener Praxisgemeinschaft für Psychotherapie Verhaltenstherapie anbietet. Rund 45 Patienten betreut sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Tanja Grathwol. Gerade hier, im ländlichen Raum, sei für einen Therapieplatz mit Wartezeit von ungefähr neun Monaten zu rechnen. Für den Mittelbereich Villingen-Schwenningen sei kein Niederlassungssitz mehr frei. Keck fragt sich: Wann wurde der regionale Verteilungsfaktor, nach dem bestimmt wird, auf wie viele Menschen ein Arzt oder Therapeut kommen sollte, zuletzt berechnet? "Die Anfragen kommen von überall her, das ist traurig zu beobachten. Viele sitzen dann vor einem, die schon gefühlt sehr lange mit der Krankheit leben."

Neben der Schwierigkeit, einen Therapieplatz zu finden, sei auch nach wie vor Stigmatisierung ein Problem. "Die Menschen, die her kommen, haben Angst, gesehen zu werden. Das Tabu ist noch da. Das Ländliche ist da ein großer Faktor. Die Leute sagen: ›Ich will nicht, dass alle wissen, was mit mir los ist."

"Ich will, dass es normal wird, offen darüber zu reden", fordert Stefan Plaaß, 58 Jahre alt, selbst Betroffener und Leiter der St. Georgener Selbsthilfegruppe für Menschen mit Depressionen. Zwischen acht und 15 depressiv Erkrankte treffen sich seit 2013 einmal im Monat. Es gilt: Was in der Gruppe gesprochen wird, bleibt in der Gruppe. Und: Priorität hat, über denjenigen zu sprechen, dem es gerade schlecht geht.

"Ich bin ein sensibler Typ", beschreibt sich Plaaß. Auch wenn man ihm das nicht ansehe: Er ist groß, glatzköpfig, breites Kreuz, fester Händedruck, Tätowierung auf dem Unterarm. "Und ich habe ein Helfersyndrom eingepflanzt bekommen. Wenn jemand im Leben fertig gemacht wird, gehe ich dazwischen."

Nach dem Tod der Mutter, 2007, begannen die Depressionen. Plaaß fühlte sich "total energielos", ohne genau zu wissen warum. Er konnte nicht aufstehen, vernachlässigte Haushalt und Körperhygiene. Er hatte keine Lust, sah keinen Sinn. Wie eine innere Taubheit sei das gewesen. Und er dachte: "Da wird sich nie mehr was ändern, du kommst da nimmer raus." Auch Plaaß ging zunächst zu seinem Hausarzt. Es folgten Klinikaufenthalte, ab 2009 nahm er Antidepressiva.

Auch wenn es extrem schwierig sei, nach einem freien Therapieplatz zu suchen, gilt für Plaaß: "Den Weg, sich Hilfe zu suchen, muss jeder selbst gehen." Er rät, man solle zuerst zum Hausarzt gehen und sich dann auf die Wartelisten der Therapeuten setzen lassen. Wenn man niemanden findet, könne man das ruhig auch die Krankenkasse wissen lassen. Man müsse "bohren, bohren, bohren".

Während des Klinikaufenthalts hat ihm die Gruppentherapie sehr geholfen. Erfahrene geben ihre Erfahrungen weiter, sagt Plaaß. "Es ist wichtig, dass die Leute merken, dass sie damit nicht alleine auf der Welt sind. Betroffene profitieren am meisten, wenn Betroffene reden." Diese Gewissheit hat ihn bei der Gründung der St. Georgener Selbsthilfegruppe motiviert.

Die lokale Gruppe ist insofern außergewöhnlich, dass sie zu drei Vierteln aus Männern zwischen 20 und 70 Jahren besteht. Die Therapeutin Ines Keck sagt, sie tue sich schwer mit "Männer-Frauen-Klischees", da viele Frauen sich zwar tendenziell leichter auf eine Gesprächstherapie einlassen können, allerdings oftmals genauso wenig Worte für ihre Gefühlswelt fänden, wie Männer. Doch auch sie gibt zu, dass dieser Männerüberschuss in der Gruppe ungewöhnlich sei. Frauen mit psychischen Problemen würden sich tendenziell früher Hilfe suchen, während Männer häufiger in die Sucht flöhen. "Männer erleben Gefühle oft als Schwäche und sorgen sich, ihren ›Mann nicht stehen‹ zu können. Bei Männern muss ich anders sein. Es braucht eine gute therapeutische Beziehung, bevor ich Gefühle ansprechen und er sie mir zeigen kann."

Plaaß ist nach seiner Erkrankung den "Weg der totalen Offenheit" gegangen. Doch er sagt auch, dass es "bis vor einem Jahrzehnt diese Offenheit beim Mann nicht gab". Auch heute seien innerhalb der Gruppe zwischen den Männern noch Unterschiede bemerkbar, auch zwischen den Gerationen: "Für Ältere ist es vielleicht eine größere Hürde. Junge Männer reden leichter darüber."

Roland Elsner stand Einzel- und Gruppengesprächen skeptisch gegenüber. "Ich war verbohrt. Ich dachte: Jetzt muss ich mir den Scheiß auch noch anhören." Er habe Probleme mit seinen Aggressionen gehabt. Auf das Angebot einer Kreativtherapie, bei der er seine Gefühle malen sollte und seinen ersten Therapeuten reagierte er mit Wut, konnte sich nicht einlassen. "Eigentlich war ich ein Arschloch." Er erklärt sich das mit seiner eigenen Sozialisation.

Im Grunde sei er "lieb erzogen" worden. "Aber St. Georgen war in den 80er-Jahren ein hartes Pflaster. Man hat Schläge kassiert. Als Jugendlicher hab ich immer gekriegt." Irgendwann konnte er die eigenen Vorurteile aufgeben und sich öffnen. Heute sagt auch er: "Unter seinesgleichen zu sitzen ist super hilfreich. Therapien helfen."

Die Depressionen sind bei Elsner inzwischen chronisch. Die psychischen Probleme haben bei ihm auch körperliche Auswirkungen. Er hat Schmerzen in den Beinen, rund um die Uhr. Um am Alltag teilnehmen zu können, nimmt er Antidepressiva. Elsner sagt, er hadere bis heute mit der Krankheit, vergleiche sich oft mit früher. Dennoch geht er offen damit um. "Ich sage dann: Sorry, ich schaffe es nicht." Die Gefahr zu vereinsamen sei groß, wenn Freunde oder Familie einen falsch behandeln. Mitleid sei nicht hilfreich. Wichtig sei Verständnis. "Denn wenn man sich ausklinkt, tut es einem selbst ja unendlich Leid. Ich hab auch meine Tränen nicht im Griff. Dann geht’s mir in dem Moment scheiße, aber irgendwann geht’s dann auch wieder."

Ines Keck rät, sich nur dann anderen gegenüber zu öffnen, wenn es hilfreich ist. "Verständnis kann auch ausbleiben und diese Hoffnung platzen." Sie erlebe auch selten, dass Vorgesetzte offensiv unterstützend auf Betroffene zugehen. Zudem könne ein Betroffener nach wie vor auf viele Vorurteile stoßen, wenn er seine Depressionen öffentlich macht: "Der hat einen an der Klatsche, ich schaff’s doch auch, reiß dich mal zusammen, du willst ja gar nicht richtig, genieße den Augenblick und alles wird gut."

Stefan Plaaß hat seine Offenheit mit dem Thema nie bereut: "Ich bekomme immer nur positive Reaktionen." Vorurteile kann er bis zu einem gewissen Grad verstehen. "Woher sollen Außenstehende verstehen, wie es Betroffenen geht?" Ein gebrochenes Bein könne man sehen, eine verletzte Seele jedoch nicht. Er setzt auf Aufklärung. "Die, die es verstehen wollen, haben es auch verstanden." Er hat gelernt, sich nicht selbst zu bemitleiden. Aber das bedeute auch viel Arbeit. "Ich bin mittlerweile froh, die Krankheit bekommen zu haben. Ich habe so viel in meinem Denken geändert. Ich kann gut mit der Krankheit leben." Und noch einmal mit Nachdruck: "Ich kann damit leben."

Die Selbsthilfegruppe trifft sich jeden ersten Dienstag im Monat um 18 Uhr in der Wirkstatt. Die Anmeldung erfolgt über Stefan Plaaß unter Telefon 07724/20 88. Die Terminservicestelle hilft bei der Suche nach einem Therapeuten, Montag bis Donnerstag von 8 bis 16 Uhr und freitags von 8 bis 12 Uhr, unter Telefon 0711/78 75 39 66. In Akutfällen hilft in Donaueschingen die Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Schwarzwald-Baar-Klinikums unter Telefon 0771/88 58 01.