Bernard Lebis arbeitet in Frankreich als Stallbursche, ehe er im Zweiten Weltkrieg an die Front muss. Foto: Yohan Fleury

Heimatgeschichte: Yohann Fleury rekonstruiert das Leben seines Großvaters im Schwarzwald / St. Georgener helfen dem Franzosen

Als Yohann Fleury zerrissene Briefe seines verstorbenen Großvaters aus der Nachkriegszeit findet, setzt er sich zum Ziel, deren Ursprung auf den Grund zu gehen. Was wie der Plot eines Filmdramas klingt, ist eine wahre Geschichte – die Fleury bis nach St. Georgen führt.

St. Georgen. Es ist das Jahr 1986. Der Zweite Weltkrieg ist seit mehr als 40 Jahren zu Ende. Doch für Bernard Lebis erscheint die damalige Zeit gerade jetzt alles andere als weit entfernt. Der Franzose hat Krebs im Endstadium, liegt im Sterben. Auf seinem Totenbett denkt er an den Zweiten Weltkrieg. Denn das Morphin lindert zwar seine Schmerzen, doch es bringt gleichzeitig auch Erinnerungen zurück. An die Gefechte, die Bomben, die vielen Toten. Und an eine deutsche Frau. Immer und immer wieder erwähnt er ihren Namen. Wer sie war, bleibt bis heute unklar. Dann nimmt Bernard Lebis seinen letzten Atemzug.

Zerrissene Briefe erzählen aus der Zeit der Kriegsgefangenschaft

34 Jahre später erreicht den Schwarzwälder Boten eine E-Mail aus Brüssel, die mit ebendiesem Ereignis zusammenhängt. Denn das Lebensende des französischen Soldaten sollte der Anfang einer langen Reise für seinen Enkel Yohann Fleury sein.

Dessen Erzählungen führen zurück in die 1980er-Jahre: Nach Lebis Tod entscheidet seine Frau, mit den Erinnerungen an den Krieg abzuschließen. Sie packt die alten Dokumente in einen Beutel und beauftragt ihre Tochter, den Inhalt zu verbrennen.

Der damals 14-jährige Fleury nutzt die Gelegenheit, um in einem unbeobachteten Moment in den Beutel zu greifen. "Ich habe ihn geöffnet und habe alte Briefe aus den Jahren 1947 bis 1949 gefunden, die sie in Stücke zerrissen hatte. Alte Bilder von einem Stammlager, eine Quittung der Firma, in der mein Großvater arbeitete." Ebendiese Firma ist in St. Georgen keine unbekannte: Bernard Lebis arbeitete bei A. Maier, seit 1940 war er in der Bergstadt in deutscher Gefangenschaft.

Wie landete er dort? "Vor dem Krieg war mein Großvater ein Stallbursche, er kümmerte sich um die Pferde. Er war außerdem ein Pferdejockey", erzählt Fleury.

Als der Zweite Weltkrieg beginnt, tritt Lebis in die Kavallerie ein. Doch sein Kampf an der Front ist schnell vorbei. Als Hitlerdeutschland im Rahmen des Westfeldzuges Belgien angreift, wird der damals 25-jährige Franzose, der an der Grenze stationiert war, festgenommen und in den Schwarzwald verfrachtet. "Er blieb bis 1945", erzählt Fleury.

Über die Zeit in der Bergstadt weiß sein Enkel nur das, was ihm die Dokumente aus dem Beutel verraten. Die zerrissenen Briefe hat er wieder zusammengeklebt und daraufhin in der Schule Deutsch gelernt, um die heimlich an sich genommenen Schriftstücke zu übersetzen.

Die Briefe geben einen Einblick in eine für damalige Zeiten ungewöhnliche und gleichzeitig gefährliche Verbindung. Zwei St. Georgener, Gottlieb Pfaff und Johann Georg Jäckle, freundeten sich mit Lebis an. Sie hörten gemeinsam BBC, um sich im Radio über die Fortschritte der Alliierten zu informieren, sprachen französisch und verbrachten Zeit miteinander.

Lange Jahre geraten die Dokumente, die all das belegen, in Vergessenheit. Bis sich Fleury entschließt, erneut die Spurensuche aufzunehmen. Eine Frage, die in umtreibt: Gibt es noch Nachkommen von Pfaff und Jäckle, die ihm mehr über seinen Großvater erzählen können?

Klaus Knöpfle lebt noch heute in dem Haus, in dem einst Lebis verkehrt

Um mögliche Nachfahren zu ermitteln, schaltet sich für den Schwarzwälder Boten Otto Rapp ein. Die Recherchen des Heimatexperten fördern zutage, dass der gebürtige Oberkirnacher Jäckle Fabrikarbeiter war und die Funktion eines Drehers innehatte. Aus der Ehe mit seiner Frau Mina gingen zwei Söhne hervor. Fehlende Kirchenbucheinträge legen allerdings nahe, dass die beiden Nachkommen später aus St. Georgen wegzogen. Eine weitere Tochter, die vor der Ehe gezeugt wurde, wanderte nach Holland aus. Die Recherche endet in einer Sackgasse.

Anders verhält sich das bei Gottlieb Pfaff. Einer seiner Söhne lebt noch heute in der Bergstadt. "Ich kann mich an den Bernard erinnern, das war ein freundlicher Mann", erzählt Günter Pfaff. Einige Franzosen hätten am Haus seines Vaters Betonarbeiten verrichtet.

In besagtem Gebäude wohnt heute Klaus Knöpfle, der vielen St. Georgenern als ehemaliger Jugendhausleiter bekannt ist. Auch er kann als Enkel von Gottlieb Pfaff ein weiteres Puzzleteil der Geschichte liefern. "Ich weiß, dass in seiner Firma Franzosen beschäftigt waren, die er am Wochenende oft bei sich gehabt hat", sagt Knöpfle.

Aus Erzählungen wisse er, dass die Familie hierüber nicht glücklich war. "Mein Opa hat mit dem Kommunismus sympathisiert, mit dem Hitlerregime hat er nichts am Hut gehabt", berichtet er. Beim Umbau des Hauses entdeckte Knöpfle einst versteckte Kommunismus-Broschüren.

Wie wenig Pfaff vom Nationalsozialismus hielt, zeigt sich auch in einem Brief, den er im Januar 1948 an Lebis auf Französisch schrieb. Der St. Georgener erzählt darin unter anderem, wie Russen "von den Banditen" ermordet wurden. "All das ist sehr bedauerlich und traurig – aber Bernard, was noch trauriger ist als all das, ist, dass die Nazis noch immer in St. Georgen sind und dass alle anderen, die noch im Gefängnis sitzen, keine Nazis waren."

Einige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges sollten sich die Leben der beiden Männer ein weiteres und zugleich auch letztes Mal kreuzen, wie Fleury rekonstruiert hat.

Pfaff bittet in besagtem Brief seinen alten Freund, seinen Einfluss als Franzose zu nutzen, um seinen Sohn Egon aus der Kriegsgefangenschaft zu retten. Denn Egon Pfaff sitzt seit 1947 in einem Internierungslager in Bühl-Altschweier. "Mein Großvater hat ihm den Gefallen getan und es gibt eine Antwort, die besagt, dass der Sohn dann zurückgekehrt ist", erzählt Fleury.

Egon Pfaff, der dank Bernard Lebis Einsatz freigelassen wurde, lebte bis zu seinem Tod 1990 in St. Georgen. Lebis selbst kehrte allerdings laut Fleury nie wieder in den Schwarzwald zurück, um jene zu besuchen, die ihm einst halfen. Seine Großmutter Marcelle, so erzählt es Fleury, geriet mit ihrem Mann darüber, dass er Jäckle und Pfaff besuchen wollte, in Streit. "Meine Mutter Nadia denkt, sie hat damals in den 50er-Jahren den Namen Johann in ihrer Diskussion gehört, als sie noch klein war", erzählt er. "Sie wollte seither ihren Sohn Yohann nennen."

20 Jahre später kam Fleury zur Welt. "Mein Name ist also auf Johann Jäckle zurückzuführen. Und das ist der Grund, weshalb ich mich dieser ganzen Geschichte rund um St. Georgen so verbunden fühle."

In wenigen Wochen habe er dank der Hilfe unserer Zeitung Dinge über seine Familie herausgefunden, die ihn seit dem Tod seines Großvaters Ende der 1980er-Jahre beschäftigen. Was nun bleibt, ist ein Wunsch: "Ich hoffe, eines Tages dürfen wir nach der Corona-Krise wieder reisen und ich bekomme die Möglichkeit, nach St. Georgen zu kommen."