Die Erleichterung war groß, als vor zwei Tagen ein zweieinhalbjähriger Junge im Hornberger Ortsteil Niederwasser wieder unversehrt gefunden wurde. Besorgte Eltern fragen sich: Wie kann ich mein Kind für Gefahren sensibilisieren? Und was genau steckt hinter der Aufsichtspflicht?
Mehrere Stunden lang hatten hunderte Kräfte am Dienstagabend im Hornberger Ortsteil Niederwasser nach einem zweijährigen Jungen gesucht. Das Kind hatte zuvor auf dem Grundstück seiner Familie gespielt und war plötzlich verschwunden - vermutlich im nahe gelegenen Wald. Verzweifelt suchten die Eltern nach ihrem Sohn, ehe sie einen Notruf absetzten. Eine beispiellose Rettungsmaschinerie wurde in Gang gesetzt. Am Ende ging alles gut aus: Das Kleinkind wurde wohlbehalten gefunden.
Für die Eltern hat die Suchaktion keine negativen Folgen: Gegen sie werde nicht ermittelt, teilte die Polizei mit. Auch die Kosten des Einsatzes müssen sie nicht tragen.
Doch wie müssen sich Erziehungsberechtigte verhalten, ab wann verletzen sie ihre Aufsichtspflicht? Wir haben bei Experten nachgefragt.
Kinder genießen besonderen Schutz und Fürsorge, das regelt nicht nur das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), sondern auch die allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen: „Alle Kinder, eheliche wie außereheliche, genießen den gleichen sozialen Schutz“, heißt es dort.
Doch zur Erziehung gehört ebenso Loslassen, das Kind altersgerecht zur Selbstständigkeit zu erziehen. Auch das steht im BGB. Für die Erziehung gibt es keine konkrete, rechtliche Bestimmung, an der sich Eltern orientieren können, sie bleibt ein Balanceakt zwischen Aufsichtspflicht und Selbstständigkeit des Kindes.
Was steckt hinter der Aufsichtspflicht?
Die Aufsichtspflicht nehme mit zunehmendem Alter des Kindes ab, gilt aber grundsätzlich ab der Geburt des Kindes bis zur Volljährigkeit, erklärt Florian Ziegler, Anwalt für Familien- und Erbrecht in Lahr und fügt hinzu: „Sie gilt auch dem Schutz Dritter.“ Sollte ein Kind Schäden verursachen, seien die Eltern nur verantwortlich, wenn sie die Aufsichtspflicht während des Vorfalls verletzt hätten. Wann dieser Punkt erreicht ist, lasse nicht allgemein sagen. Jeder Fall müsse einzeln betrachtet werden und hänge von Faktoren wie dem Alter des Kindes, dem Maß der Gefahr sowie der Reife und Einsichtsfähigkeit des Kindes, ab.
Die Aufsichtspflicht lasse sich auch übertragen – beispielsweise durch einen Vertrag mit dem Kindergarten. Aber auch eine mündliche Vereinbarung reiche aus. So müsse man mit dem Babysitter keinen schriftlichen Vertrag abschließen, die Absprache „Du betreust mein Kind und erhältst dafür Geldbetrag X“ reiche aus.
Welche konkreten Maßnahmen können Eltern ergreifen, um ihrer Aufsichtspflicht gerecht zu werden?
„Welche konkreten Maßnahmen für Eltern dazu geeignet sind, ihr Kind zu beaufsichtigten, um Gefahren möglichst von ihm abzuwenden, sind abhängig vom Alter und Entwicklungsstand des Kindes und von der Situation“, sagt Sybille Schmider, Leiterin der psychologischen Beratungsstelle des Caritasverbands Kinzigtal in Haslach. Wichtig sei eine physische Sicherung des Umfelds – Steckdosensicherung, Herdschutzgitter, Türstopper, Sicherung an Fenstern und Balkonen. Außerdem sollten gefährliche Gegenstände wie Medikamente und Putzmittel sicher aufbewahrt werden.
„An Gefahren, die nicht vermieden werden können, wie zum Beispiel die Teilnahme am Straßenverkehr, sollten Kinder schrittweise herangeführt werden. Dazu gehört auch, über mögliche Gefahren aufzuklären, um die Aufmerksamkeit der Kinder dafür zu schärfen, ohne Ängste zu verursachen“, erklärt Schmider.
Präventiv könnten Eltern Aufnäher mit Namen, Telefonnummer und Adresse in der Jacke des Kindes anzubringen - „für unübersichtliche Situationen, wie Einkaufsmärkte, Flughafen oder Volksfeste“, so Schmider. Zudem gelte es, das Umfeld auf Gefahrenstellen, wie Baustellen, Straßen, Bäche und Weiteres zu prüfen, daraufhin mit dem Kind Verhaltensregeln festzulegen und klare Grenzen zu setzen. Mit älteren Kindern könnten Eltern laut Schmider „Was-wäre-wenn-Szenarien durchspielen und Lösungen vereinbaren“ – beispielsweise „Was passiert, wenn es klingelt?“.
Wie kann die Aufsichtspflicht an das Alter und den Entwicklungsstand des Kindes angepasst werden?
„Generell lässt sich sagen: Je jünger ein Kind ist, desto mehr Aufsicht ist erforderlich“, meint Schmider. „Je älter und verantwortungsbewusster ein Kind ist, desto mehr Freiraum kann und muss ihm zugestanden werden – das ist wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes.“
Ab wann dürfen Kinder alleine bleiben?
„Ein Verständnis für Gefahrensituationen ist bei Kindern unter drei Jahren noch nicht gegeben. Sie sind in diesem Alter impulsgesteuert und können Folgen ihres Handelns nicht abschätzen. Schon wenige Sekunden können daher ausreichen, um ein Kind aus dem Blick zu verlieren“, erklärt Rita Zimmermeyer, Familientherapeutin und Heilpädagogin im Kinzigtal.
Diplom-Sozialpädagoge Ulric Ritzer-Sachs von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung, dem Fachverband der Erziehungs- und Familienberatung, erklärt in einem Podcast, wie Kinder in welchem Alter alleine sein können:
Unter 3 Jahren sollten Eltern demnach das Kind niemals komplett alleine lassen. Sich in einem anderen Raum aufzuhalten und ab und zu nach dem Kind zu schauen funktioniere, allerdings sei es keine gute Idee, die Wohnung beziehungsweise das Haus zu verlassen.
Bei Kindern ab dem vierten Lebensjahr gestalte sich dies anders. Als Beispiel nennt er den Spielplatzbesuch. Eltern müssten das Kind nicht dauerhaft im Blick behalten und könnten Gespräche führen, ohne dauernd zum Kind zu schauen. In sicheren, verkehrsberuhigten Gegenden könne das Kind zudem für eine Viertelstunde unbeaufsichtigt mit anderen Kindern spielen – allerdings niemals komplett alleine und für längere Zeit ohne Aufsicht.
Ritzer-Sachs hält es für „sehr problemlos“, ein sechsjähriges Kind für die Dauer eines Bäckerbesuchs oder Einkaufs alleine zu lassen. Dafür bedürfe es aber vorbereiteten Regeln.
Länger noch könnten Kinder ab ungefähr zehn Jahren alleine gelassen werden. Jedoch immer nur in Absprache mit dem Kind und unter Berücksichtigung, ob es sich damit wohlfühlt oder nicht. Doch Ritzer-Sachs will sich nicht nur am Alter aufhängen, es komme stark auf die Reife des Kindes an, führt er aus.
Ab 14 Jahren spiele das Thema Aufsicht eine wesentlich geringere Rolle.
Hier gibt es Hilfe
Zur Unterstützung von Eltern
stehen die Psychologischen Beratungsstellen und die zugehörigen Fachstellen Frühe Hilfen im Ortenaukreis zur Verfügung.