Und nun? Vom Niemals-Groko-Versprechen des Wahlabends – am Tag nach dem Scheitern der Jamaikasondierungen im November nochmals mit einem einstimmigen Vorstandsbeschluss bestätigt – ist nach einem dramatischen Appell von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und nach vielen internen Debatten nicht mehr viel geblieben. Nun soll doch ergebnisoffen mit der Union geredet werden. Dabei ist für viele Delegierte allein der Gedanke an eine Neuauflage der großen Koalition so reizvoll wie die Vorstellung, Erbrochenes abermals essen zu müssen. Ähnlich unerträglich ist für viele allerdings auch der Gedanke an eine Neuwahl.
Es ist eine Zerreißprobe für eine verunsicherte Partei
Es sind Tage, in denen die Mitglieder einer völlig verunsicherten Partei somit in zwei entgegengesetzte Richtungen drängen. Man nennt das: Zerreißprobe. Schulz ist sich dessen bewusst. Er knetet in den Sekunden vor seinem Redebeginn die Finger, er kratzt sich den Bart, er sitzt stocksteif da auf dem Podium, und seine Gesten sind so leicht zu lesen wie ein offenes Buch. Er hat Bammel, fürchtet den Moment, der ihm bevorsteht. Aber es hilft nichts. Will er Vorsitzender bleiben, darf er die vielleicht wichtigste Rede seines Lebens nicht in den Sand setzen. So einfach ist das – und so schwer.
Er versucht es erst mal auf die rheinische Art. Er schmeichelt. Lässt es menscheln, warme Worte sollen Zusammenhalt stiften. Der zweite Akt der vorsichtigen Annäherung an die schwer berechenbaren 600 Delegierten: Demut und Einsicht. Er habe ja schon so manches durchgemacht, aber so ein Jahr habe er „noch nie erlebt“, das könne man „nicht einfach abschütteln“. Man sei nach dem zwischenzeitlichen Höhenflug auf 30 Prozent und mehr wieder da gelandet, wo man am Jahresanfang in Umfragen gestartet sei, bei rund 20 Prozent. „Das ist hart, das ist bitter“, so Schulz, und weil so viele Menschen so große Hoffnungen in ihn gesetzt hätten, hält er es für angezeigt, sich kurz mal in den Staub zu werfen. „Ich bitte für meinen Anteil an dieser bitteren Niederlage um Entschuldigung.“
Er macht aber auch schnell klar, dass dieser „Anteil“ seiner Ansicht nach ziemlich genau ein Vierzigstel der Gesamtverantwortung ausmacht, mithin ziemlich vernachlässigbar wäre. Zehn Millionen Wähler habe man seit 1998 verloren, sagt er. Man müsse deshalb nicht nur das von ihm verantwortete halbe Jahr vor der Bundestagswahl aufarbeiten, sondern die letzten 20 Jahre. Der Beifall bleibt spärlich.
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