SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert dringt auf mehr Verteilungsgerechtigkeit. Foto: dpa/Kay Nietfeld

Hat die Regierung in der Energiekrise auch Menschen entlastet, die es gar nicht brauchten? Ja, sagt Kevin Kühnert. Im Interview verrät er, wie er gegensteuern will.

Die Entlastungen in der Energiekrise hätten schnell kommen müssen – und deshalb auch Menschen erreicht, die sie nicht brauchen. So sagt es SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert. Im Interview fordert er, die Ampel müsse jetzt für mehr Verteilungsgerechtigkeit sorgen. Und er verrät, warum er manchmal gern unsichtbar wäre.

Herr Kühnert, seit einem Jahr regiert ein sozialdemokratischer Kanzler. Ist Deutschland in dieser Zeit gerechter geworden?

Ja. Deutschland wird gerechter regiert, als andere es regieren würden. Das dürfen die Deutschen auch erwarten, schließlich haben sie 2021 mehr Gerechtigkeit gewählt. Aber natürlich gibt es auch Rückschläge für die Gerechtigkeit im Land – insbesondere durch äußere Umstände. Viele Menschen sind von der Inflation und der Energiekrise stark betroffen. Wir schaffen Entlastungen, so gut und schnell wir können.

Sind die Entlastungspakete und die Energiepreisbremsen denn gerecht? Kommt nicht doch zu viel Geld auch bei denen an, die es gar nicht brauchen?

Mit den Entlastungspaketen ist es uns gelungen, mit einem gewaltigen Kraftakt sehr viel Geld zu den vielen Menschen zu bekommen, die es dringend brauchen. Wahr ist aber auch: In der Abwägung zwischen Geschwindigkeit und absoluter Zielgenauigkeit haben wir uns bei den Entlastungspaketen oft für die Geschwindigkeit entschieden. Das war vertretbar, weil die Not groß war. Der Preis dafür ist, dass wir – in nicht unerheblichem Ausmaß – Unterstützung auch an Leute gegeben haben, die es nicht gebraucht hätten. Und die das oft sogar selbst so sehen. Das gilt von der 300-Euro-Pauschale über die Mehrwertsteuersenkung auf Gas bis hin zu den Energiepreisbremsen.

Ließen sich die Energiepreisbremsen gerechter gestalten?

Das ist gar nicht so einfach. Wir wissen nicht, wer sich hinter einem Gasanschluss verbirgt. Es gibt keine Datengrundlage, auf der Sie schnell und unkompliziert erkennen könnten: Das ist ein Haushalt, der die Preisbremse braucht – und das einer, der sie nicht braucht. Ich würde deshalb einen anderen Weg bevorzugen.

Nämlich?

Wir müssen uns in der Ampelkoalition im neuen Jahr damit beschäftigen, wie wir rückwirkend mehr Verteilungsgerechtigkeit im Land herstellen. Das bedeutet: Wir müssen den ungewollten, aber in der Kürze der Zeit unvermeidlichen Fehlverteilungseffekt aus den Entlastungspakten an anderer Stelle ausgleichen.

Und das bekommen Sie mit der FDP hin?

Es haben doch alle erkannt, dass wir mit den Entlastungspaketen zunächst auch Menschen erreicht haben, die das Geld nicht gebraucht hätten. Die FDP ist für sparsames Wirtschaften, und da will ich sie beim Wort nehmen. Auch sie kann es nicht gut finden, 300 Euro an Millionäre auszuzahlen und es dann dabei bewenden zu lassen. Das können wir gemeinsam ins Lot bringen.

Über höhere Steuern für Reiche?

Für mich stellt es sich so dar: Wir bewirtschaften als Koalition ein Feld und wollten dieses Feld vorm Vertrocknen schützen. Da uns als einziges Hilfsmittel eine Gießkanne zur Verfügung stand, haben wir sie genommen und unseren Job gemacht. Jetzt sind wir in der Pflicht zu schauen, wie wir Wasser von den Teilen des Feldes zurückgewinnen können, die kein Wasser benötigt hätten. Die Herausforderung, vor der wir im Jahr 2023 stehen, ist also: Wie können unsere Wasserspeicher wieder gefüllt werden?

Also wie?

In der SPD ist fest vereinbart, dass wir im neuen Jahr verschiedene Konzepte diskutieren und konkret durchrechnen wollen. Im Raum steht beispielsweise der Vorschlag einer einmaligen Vermögensabgabe für sehr große Vermögen. Die Einmaligkeit betont dabei, dass es sich auch um eine Reaktion auf die kürzlich entstandene Fehlverteilung handeln würde. Über diese und andere Modelle sollten wir unvoreingenommen reden, und die SPD ist auch offen für Vorschläge der Koalitionspartner. SPD, Grüne und FDP sind gemeinsam in der Pflicht, einen sorgsamen Umgang mit Steuermitteln zu pflegen. Und da sollte es selbstverständlich sein, dass üppige Entlastungsgelder für sehr wohlhabende Haushalte nicht als unvermeidlicher Kollateralschaden erachtet werden.

Schauen wir ans untere Ende der Skala. Reicht der Regelsatz von 502 Euro Bürgergeld im kommenden Jahr tatsächlich aus?

502 Euro sind wenig Geld. Die gesamte Bürgergeldreform ist darauf angelegt, dass wir die Betroffenen aus dem Leistungsbezug herausholen können. An der Regelsatzdiskussion hat mich immer gestört, dass sie geführt wird, als hätten wir uns mit der Zahl von einigen Hunderttausend Erwerbslosen bereits arrangiert. Wir wollen aber, dass diese Menschen mehr als 502 Euro haben, indem wir sie mit besseren Möglichkeiten für Aus- und Weiterbildung wieder dauerhaft in Arbeit bringen. Dafür haben wir die Reform gemacht.

Steuern Sie beim Regelsatz nach, falls die Preise heftiger steigen als gedacht?

Wir lassen niemanden im Stich, auch nicht, wenn die Inflation wider Erwarten schlimmer wird. Dann können wir auch kurzfristig mit Einmalzahlungen reagieren. Unser Sozialstaat ist stark und handlungsfähig.

Die Unterscheide in der Ampel in der Finanz- und auch der Sozialpolitik sind groß. Ist die Ampel ein Bündnis, dessen Fortsetzung man anstreben sollte, wie der Kanzler es von Anfang an gesagt hat?

In einem Bundestag mit den aktuellen Mehrheiten würde ich wieder eine Ampelkoalition anstreben.

Der Kanzler spricht bei Putins Krieg gegen die Ukraine von einer Zeitenwende. Hat der Krieg Ihre Weltsicht von einem auf den anderen Moment verändert?

Nicht von einem Moment auf den anderen, aber manche frühere Annahme ist brutal widerlegt worden. Dieses ganze Jahr ist ein harter Lernprozess gewesen. Ich habe mich persönlich noch viel intensiver mit unseren osteuropäischen Nachbarn beschäftigt. Das hat mir neue Perspektiven eröffnet. Ich betrachte heute das, was in Osteuropa passiert, weniger aus deutscher Perspektive – also mit Blick etwa auf Handel und Rohstoffsicherheit – und mehr durch die Brille derjenigen, die ganz unmittelbar betroffen sind.

Macht Ihnen der Krieg selbst Angst?

Nein, Angst nicht. Ich spüre eine Grundanspannung. Das hat insbesondere mit der Irrationalität Putins zu tun. In Deutschland haben viele beim Blick auf Putin immer nach dem Rationalen im Diktator gesucht. Das gibt es so aber nicht.

Brauchen wir einen Ausweg über die Diplomatie?

Das ist ja weniger strittig, als es manchen erscheint. Ich kenne kaum jemanden, der nicht davon ausgeht, dass das Kriegsende über Diplomatie herbeigeführt wird. Doch Achtung vor dem Trugschluss! Eine diplomatische Lösung entsteht nicht daraus, dass man einen Tisch hinstellt und sagt: Nun redet mal. Diplomatie hat Voraussetzungen. Wir müssen die Ukraine so stark machen, dass Putin nicht mehr glaubt, seine Kriegsziele erreichen zu können. Eine diplomatische Lösung muss auf diesem Fundament stehen.

Glauben Sie an eine SPD, die auch bundesweit wieder über 30 Prozent kommen kann?

Das ist möglich, wenn wir es dauerhaft schaffen so zu regieren, wie wir es im Wahlkampf versprochen haben. Die Zeiten, in denen in Familien wie ein Erbstück die Parteienbindung weitergegeben wurde, sind aber vorbei. Wenn Parteien plausible Antworten auf die wichtigen Fragen der Zeit geben, über starke Persönlichkeiten verfügen und sich einig präsentieren, können sie auch heutzutage sehr gute Wahlergebnisse erzielen. Daran arbeiten wir.

Sie sind seit einem Jahr SPD-Generalsekretär. Was hätte der Juso-Chef Kevin Kühnert über den Generalsekretär Kühnert gesagt?

Der Juso-Chef Kevin Kühnert hat sich damals nicht vorgestellt, dass sehr zeitnah irgendein SPD-Generalsekretär eine SPD-geführte Regierungspolitik kommentieren darf. Allein dieser Gedanke hätte seine Fantasie sehr strapaziert.

Ist es beängstigend, wenn der Kanzler sauer auf einen ist?

Das weiß ich nicht. Ich habe das noch nie erlebt.

Vielleicht haben Sie es nur nicht gemerkt. Scholz wird, so hört man, nie laut, sondern spricht auch, wenn er wütend ist, eher leise.

Das ist zeitgemäßer Führungsstil und spricht auch für einen anständigen Charakter. Ich möchte nicht von Cholerikern regiert werden.

Zum Abschluss noch zwei private Fragen: Früher haben Sie überall, wo sie waren, gern mal bei Sportveranstaltungen vorbeigeschaut – und sei es auf dem Dorffußballplatz. Machen Sie das noch?

Das ist zeitlich nur noch selten zu schaffen – leider. Inzwischen erkennen mich auf dem Fußballplatz oder anderswo auch viel zu viele Menschen – und schon gibt es dort eine große Aufgeregtheit, weil der Typ aus dem Fernsehen da ist. Ich hätte gelegentlich gern den Tarnumhang von Harry Potter, der einen unsichtbar macht. Da sein, ohne gesehen zu werden, das wäre manchmal schön. Gerade, wenn man einfach nur Fußball gucken und die Atmosphäre genießen will.

Wie feiern Sie Silvester?

Ich bin zum Jahreswechsel in den Bergen. Da bin ich immer, wenn es die Zeit hergibt. Ich feiere Silvester schon seit Jahren nicht mehr wirklich und kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal Feuerwerk oder Ähnliches gekauft hätte. Für mich ist es ein ziemlich normaler Tag. Nur „Dinner for One“ schauen, das muss schon sein.