Wann kann ein Politiker schon mal vor Zehntausenden sprechen? Peer Steinbrück hat nichts mehr zu verlieren. So nutzt er die Bürgersause am Brandenburger Tor zum 150-jährigen Bestehen der Sozialdemokratie für eine staatstragende Skizzierung seines Regierungsprogramms. Foto: dpa

Wann kann ein Politiker schon mal vor Zehntausenden sprechen? Peer Steinbrück hat nichts mehr zu verlieren. So nutzt er die Bürgersause am Brandenburger Tor zum 150-jährigen Bestehen der Sozialdemokratie für eine staatstragende Skizzierung seines Regierungsprogramms.

Berlin - Zum Schluss nimmt Peer Steinbrück einen kräftigen Schluck Pils. Auf Anraten seiner Frau hatte er sich ein Gelübde auferlegt und erklärt, im Wahlkampf auf Alkohol zu verzichten. Doch als ihm auf der riesigen Bühne am Brandenburger Tor der Erfinder der Comic-Figur Werner, Rötger „Brösel“ Feldmann, plötzlich das Glas reicht, kann der SPD-Kanzlerkandidat nicht widerstehen. Steinbrücks Umfeld versucht anschließend zu versichern, es sei alkoholfreies Bier gewesen.

Hinter dem 66-Jährigen liegen anstrengende 50 Minuten, in denen er die Bürger beim SPD-Deutschlandfest von seinem Kanzleranspruch zu überzeugen versucht hat. SPD-Chef Sigmar Gabriel spricht von 200.000 Leuten, später erhöht die Partei die Zahl auf 300.000, insgesamt am Wochenende sollen es 500.000 Besucher gewesen sein. „Beim Wahlkampfauftakt von Angela Merkel waren es knapp 1000“, kann sich Gabriel einen Seitenhieb auf die Kanzlerin nicht verkneifen.

Allerdings ist nicht zu ermitteln, wie viele Menschen wegen der Gratis-Konzerte - unter anderem Nena und Roland Kaiser - hier sind und wie viele der SPD wegen. Eigentlicher Anlass ist das 150-jährige Bestehen der Sozialdemokratie, das nach dem Festakt im Mai hier noch einmal mit den Bürgern gefeiert wird. Kosten: zwei Millionen Euro.

Steinbrück blickt während seiner Rede von der opulenten Bühne, die das Brandenburger Tor komplett verdeckt, auf ein Menschenmeer. Er breitet die Arme aus, ballt die Hände zur Faust - aber Jubelgesten eines Gerhard Schröder sind nicht sein Ding. Der Mann ist ungelenker im Umgang mit dem Volk. Es ist eine Bewerbungsrede an das Volk, eine Art Regierungserklärung. Zu erleben ist der Staatsmann Steinbrück.

Er schlägt einen weiten Bogen. Da hinter den Bäumen, im Reichstag, habe der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November 1918 nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs die Weimarer Republik ausgerufen. Und wenige Meter entfernt habe der Sozialdemokrat Otto Wels nach dem Reichstagsbrand 1933 in der Kroll-Oper Adolf Hitler die Stirn geboten, als er das Nein der SPD zur Selbstentmachtung des Parlaments begründete. „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“, zitiert Steinbrück. Und hier am Brandenburger Tor hätten sich 1989 die Menschen nach dem Mauerfall in den Armen gelegen.

Mit jedem Applaus wird Steinbrück sicherer

Dann kommt er zur Gretchenfrage: Was ist heute die Aufgabe der SPD? Heute gebe es zwar eine stabile Demokratie , aber auch Neonazis - daher müsse ein Verbot der NPD her, sagt Steinbrück. Der Kapitalismus sei außer Kontrolle - also will er die Banken stärker an die Kette legen. Und fast sieben Millionen Menschen arbeiteten heute für unter 8,50 Euro die Stunde. „Mit der SPD gibt es kein Vertun: Wir werden einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn einführen“, sagt er.

Mit jedem Applaus wird er sicherer. Reiche sollen höhere Steuern zahlen, damit bis zu 20 Milliarden Euro in den Bildungsbereich fließen können. Irritationen, er und Gabriel könnten die Steuerpläne wegen der schlechten Umfragewerte aufweichen, wischt er am Rande des Festes vom Tisch. Es bleibt dabei, dass ab zu versteuerndem Einkommen von 100 000 Euro ein Spitzensteuersatz von 49 Prozent fällig werden soll. Erst wenn die Kavallerie so gesattelt wird, dass Milliarden aus dem Kampf gegen Steuerbetrüger an den Staat fließen, kann Steinbrück sich auch Steuersenkungen vorstellen. „Ich werde als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland mit aller Härte gegen Steuerbetrüger vorgehen“, verspricht er am Brandenburger Tor unter großem Jubel.

Er wolle ein Deutschland, „das stark ist, weil es gerecht zugeht“. Er spricht von einem neuen Aufbruch für mehr Gemeinsinn - doch es ist auch sein eigener Aufbruch für einen achtbaren Endspurt. Er ist jetzt im persönlichen Tunnel - er hat nichts mehr zu verlieren. Reicht es nicht für Rot-Grün, wird er Privatier, die Debatte über eine große Koalition wäre sein Bier nicht mehr. Umfragewerte, die die SPD bei nur 25 Prozent sehen, blendet er aus. Steinbrück blickt auch nicht mehr in den Rückspiegel. Das hatte zuletzt Ex-SPD-Chef Franz Müntefering zu seinem Verdruss übernommen („Mir standen die Haare zu Berge“).

Steinbrück streicht wie selten zuvor heraus, warum er Kanzler werden will - und verzichtet weitgehend auf direkte Attacken gegen Merkel. Zum Schluss steigen rote Luftballons hoch, „Brösel“ wird für ein Werner-Plakat mit rot-grüner Nase gefeiert (Slogan: „Die Welt ist schwarz genuch“). Steinbrück ist umringt von der SPD-Spitze und den Mitgliedern seines Kompetenzteams, die wie im US-Wahlkampf während der gesamten Rede hinter ihm gestanden haben.

Noch einmal geht die zuletzt nicht mehr ganz so innige Troika nach vorne an den Bühnenrand und winkt den Massen zu. In der SPD zweifeln viele, dass es auch nach dem 22. September solche Harmoniebilder von Steinbrück, Gabriel und Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier geben wird. Immerhin lesen sie später auch noch gemeinsam die „Bremer Stadtmusikanten“ vor. Zur Moral dieser Geschichte meint Gabriel: „Totgesagte leben länger.“