Parteitag bekennt sich zwar grundsätzlich zum Bahnprojekt, doch der Protest kommt aus dem ganzen Land.

Karlsruhe. Hat er nicht ausdrücklich dazu ermutigt? Er sei nicht beleidigt, wenn er mal eine Abstimmung verliert, tönt der frischgebackene Parteichef Nils Schmid noch am Freitagabend - und prompt legen es einige Genossen am Samstag darauf an. Dass der Vorstand mit seinem Antrag zur Verkehrspolitik auf Widerspruch stoßen würde, weil der auch ein Bekenntnis zu Stuttgart 21 enthält, war abzusehen. Nicht aber die Schärfe der Auseinandersetzung.

Mit seinen 76 Jahren ist Peter Conradi zwar der älteste Delegierte, doch er weiß noch immer, wie man ein Publikum gewinnt. "1959 haben wir im Godesberger Programm die friedliche Nutzung der Atomenergie beschlossen", sagt der frühere Bundestagsabgeordnete und zieht dann eine Parallele zum Bahnprojekt. Soll heißen: Die SPD hat sich schon öfter eines Besseren besonnen. "Nickt doch nicht immer alles ab", ruft er. Zu groß, zu teuer, zu alt: Er lässt kein gutes Haar an Stuttgart 21, und seine Argumente sind nicht neu. Doch sie sind gewichtig genug, dass die Parteispitze alles dagegen aufbietet, was Rang und Namen hat.

Karin Roth, die frühere Verkehrsstaatssekretärin, stemmt sich ebenso leidenschaftlich dagegen wie der Ulmer Oberbürgermeister Ivo Gönner. Der erinnert an die Proteste der 70er Jahre gegen die Schnellbahnstrecke von Stuttgart nach Mannheim. "Wir brauchen keine Bonzenschleudern", habe damals auf den Plakaten gestanden. "Heute bin ich froh, dass wir diese Trasse haben." Großvorhaben würden gern als "unendliche Sparkasse für alle nicht realisierten Projekte" umgedeutet, mahnt Gönner: "Da beginnt schon die erste Lüge."

Landtagsfraktionschef Claus Schmiedel barmt, bittet und droht: "Bei Stuttgart 21 entscheidet sich, ob die SPD glaubwürdig ist." In den Wahlprogrammen 2001 und 2006 habe sich die SPD dafür ausgesprochen. Gemeinderäte, Landtags- und Bundestagsabgeordnete hätten sich dafür ins Zeug gelegt: "Und fünf vor zwölf sagt man jetzt: Ätsch, war gar nicht so gemeint!" Wolfgang Drexler, der ehrenamtliche Sprecher des Bahnprojekts, appelliert sogar an den Ethos der Arbeiterpartei: "Die Stuttgarter Halbhöhenlage macht Front, den Arbeitervororten aber im Neckartal, denen wollt Ihr zwei neue Gleise reindrücken."

Es könne auch nicht sein, dass jene nun die Helden seien, die sich nicht an Parteitagsbeschlüsse halten, die anderen aber, die sie umsetzen, seien "die Seggl". Auch Schmid selbst, gerade erst mit 88,6 Prozent zum neuen Parteichef gewählt, sieht sich zu einer milden Ermahnung genötigt: "Passen wir auf, wie wir mit unseren Beschlüssen umgehen."

Doch der Protest kommt ja nicht nur von Conradi. Auch der Energieexperte Hermann Scheer poltert gegen das Großprojekt. Bietigheim-Bissingen, Waiblingen, Herrenberg und Stuttgart-Ost wollen Stuttgart 21 am liebsten sofort kippen. Und der Freudenstädter Kreischef Gerhard Gaiser sagt: "Wegen Stuttgart 21 bleiben viele Infrastrukturprojekte draußen im Land auf der Strecke."

So sehen es viele in Baden, Oberschwaben, Hohenlohe. "Ich trage die Beschlüsse mit", grummelt der Landtagsabgeordnete Gunter Kaufmann im Foyer, "doch bei mir in Rastatt gewinne ich damit keinen Blumentopf." In Stuttgarts sozialdemokratisch geprägten Familien gehe der Riss oft mittendurch, klagt eine Delegierte.

Trotzdem raufen sich die Genossen noch einmal zusammen. Mit deutlicher Mehrheit billigen sie Stuttgart 21 - sofern es ein "positives Kosten-Nutzen-Verhältnis" aufweist. Wenn sich bis Jahresende aber herausstellt, dass die Kosten höher liegen als die bisher veranschlagten 4,5 Milliarden Euro, soll das Projekt neu geprüft werden. Das aber heißt: Die SPD wird erneut diskutieren.

Der neue Parteichef Schmid hat jedenfalls schon jetzt einen Vorgeschmack darauf gegeben, wie locker er die Zügel dabei zu halten gedenkt. Zur Intensität der Diskussionen dürfte auch beitragen, dass sich die Gewerkschaften wieder stärker bemerkbar machen. Mit der Wahl der Verdi-Landesvorsitzenden Leni Breymaier zur stellvertretenden Landesvorsitzenden, und zwar mit 85,7 Prozent, wird die Südwest-SPD ein Stück nach links rutschen. Denn auch die Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis geht gestärkt aus dem Parteitag hervor - beide eint ihre Ablehnung der Rente mit 67.

Der bisherige Vize Peter Hofelich hingegen, ein Wirtschaftsexperte, zieht sich aus dem Vorstand zurück. Sein Leitantrag zur Industriepolitik stieß jedenfalls nur auf mäßiges Interesse.