Der Lahrer Schriftsteller Michael Paul schreibt schwerpunktmäßig historische Romane, die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzen.
Lahr - Im Rahmen von Recherchen traf Paul nun den ehemaligen obersten "Nazi-Jäger" im Land, den Leitenden Oberstaatsanwalt a. D. Kurt Schrimm, zu einem Gespräch.
Herr Schrimm, im Internet findet man hinter Ihrem Namen fast immer die Bezeichnung »Nazi-Jäger Nummer 1«. Wie geht es Ihnen damit?
Nun, das höre ich natürlich oft. Verboten ist es ja nicht, mich und meine ehemaligen und heutigen Kollegen so zu nennen. Aber gerne höre ich das nicht. Das hört sich so nach "Halali" an, nach einer Pirsch, und das entspricht so gar nicht unserer Arbeit.
Wir sah Ihre Arbeit aus, wenn man einen Verdäch-tigen im Visier hatte?
Die Arbeit hat sich natürlich insbesondere durch das Internet drastisch verändert. Ohne das Internet hätten wir zum Beispiel John Demjanjuk nie gefunden und anklagen können. Aber dazu kommt, dass ich die Arbeitsweise geändert habe. Bis zu meinem Amtsantritt hat die Zentralstelle nur von außen an sie herangetragene Verdachtsmomente aufgegriffen. Unter mir begannen wir, von uns aus zu ermitteln und mögliche Verdachtsfälle ausfindig zu machen.
Wie gingen Sie dabei vor?
Unsere Arbeit war und ist insbesondere Archivarbeit, national und international. Ich war während meiner Dienstzeit sehr viel in der Welt unterwegs, vor allem in Südamerika, den USA, Polen, Russland und Israel. Dabei weiß man nie, ob und was man findet. Jedes Archiv ist anders aufgebaut. Als ich die Idee hatte, dass wir in Argentinien Täter anhand ihrer Behelfsausweise in den Einwanderungslisten ausfindig machen könnten, waren wir mit 800 000 Akten konfrontiert, nur kalendarisch sortiert.
Warum hat man das nicht früher schon gemacht?
Es entsprach einfach bis dahin nicht der Arbeitsweise, von sich aus zu suchen. Sicher hätte man so mehr Täter finden können, wenn man früher damit begonnen hätte.
So hätte man vielleicht auch den Auschwitz-Arzt Mengele finden können?
Gut möglich. Aber der Aufwand ist, wie man an der Zahl 800 000 alleine in einem Archiv sieht, gigantisch. Der Fall Schwammberger hat mich vier bis fünf Jahre meiner Zeit gekostet.
Wie haben Sie die Beschuldigten, die Mörder erlebt, die in den KZs gemordet haben, Hunderte oder Tausende von Menschen selbst erschossen haben, zur Gaskammer geführt oder aber »nur« Wachleute waren? Das ist ja eine nicht ganz unwichtige Unterscheidung.
Das ist richtig. Bis zum Fall Demjanjuk war die Auffassung des BGH, dass einem Beschuldigten einen konkrete Tat nachgewiesen werden musste, um ihn verurteilen zu können. Das ist bei einem Wachmann natürlich extrem schwer gewesen. Mit dem Fall Demjanjuk änderte sich diese Rechtsauffassung. John Demjanjuk starb, bevor der BGH das auf dem Tisch hatte, aber im nächsten Fall dann entschied der BGH, seine Rechtsauffassung zu ändern. Seither reicht es, nachzuweisen, dass jemand zum Beispiel Wachmann in Auschwitz war. Damit war er fester Teil der Tötungsmaschine und wusste, was dort geschah. Vielleicht war das unser größter Erfolg, dass diese Änderung der Sichtweise eintrat. Das hat ja zuvor viele Urteile verhindert.
Wie erlebt man diese Menschen, die so grausame Taten vor vielen Jahrzehnten begangen haben?
Ein schlechtes Gewissen habe ich bei den Tätern nie erlebt. Da waren ja immer gebrechliche alte Männer, denen man so etwas auf den ersten Blick nie zugetraut hätte. Aber alle waren tatsächlich Überzeugungstäter oder willige Werkzeuge gewesen, bereuten ihre Taten auch jetzt nicht, sondern sahen es als ihre Pflicht damals an. Durchweg alle fanden ihre Verurteilung ungerecht. Wenn überhaupt, sprachen sie in der dritten Person: "Es war falsch, die Juden zu ermorden." Oder "Man hätte nicht…" Das Wort "Ich" kam dabei nie vor.
Dabei haben Sie sich doch sicher viel anhören müssen, was das Ertragbare übersteigt.
Man durfte sich nie täuschen lassen, wenn da ein alter Mann vor einem saß. Ich habe einmal einen Beschuldigten sechs Tage vernommen. Die ersten zwei Tage ließ ich ihn nur aus seinem Leben erzählen. Abends meinte meine Sekretärin, die das Gespräch wörtlich mitschrieb, dass dieser alte Mann doch niemals der Massenmörder sein konnte, den wir in ihm sahen. An den beiden folgenden Tagen ließ ich ihn über den Krieg erzählen. Da wurde er manchmal schon einsilbiger. Ab Tag fünf dann habe ich ihn richtig vernommen, mit Fakten und seinen Lügen konfrontiert. Meine Sekretärin meinte dann, dass sie froh ist, ihm erst hier und nicht damals in einem Ghetto begegnet zu sein. Er war ein absolut janusköpfiger Mensch mit zwei Gesichtern.
In Ihrer Dienstzeit waren die Täter meist um die 90 Jahre alt. Gerade wurde ein 101-jähriger verurteilt. Verstehen Sie die Diskussionen darüber, ob man so alte Menschen noch anklagen und verurteilen sollte?
Nach jedem Vortrag, den ich gehalten habe, kam diese Frage und begann eine Diskussion, bei der ich mich zurücklehnen konnte. Die Hälfte war dafür, die andere Hälfte dagegen. Juristisch ist die Sache eindeutig. Es geht um Mord oder Beihilfe zu Mord, ein Offizialdelikt, das nicht verjährt und verfolgt werden muss.
Aber die Täter gehen ja in dem Alter nicht mehr wirklich ins Gefängnis.
Am Ende des Tages geht es vermutlich gar nicht darum, sondern um die Schuld festzustellen. Das sind wir ja schon den Opfern schuldig und darum geht es den Hinterbliebenen der Opfer, die ja oft als Nebenkläger in den Prozessen auftreten. Warum soll man auf eine Verfolgung verzichten, nur weil sich jemand sein ganzes Leben vor seiner Verantwortung gedrückt hat? Auf den Transportlisten von Auschwitz standen alte Greise und Babys. Die Täter schickten alle ins Gas oder erschossen sie. Das Alter spielte für sie auch keine Rolle. Aber bei über 100-jährigen Tätern tue auch ich mich zugegeben etwas schwer. Für richtig halte ich es aber trotzdem.
Mit Ihrer Tätigkeit haben Sie nicht unerheblich zur Aufarbeitung unseres Landes mit seiner Geschichte beigetragen. Wir beurteilen Sie diesen Aufarbeitungsprozess in Deutschland?
Deutschland hat in großem Maße seine Geschichte aufgearbeitet, wie es noch nie ein kriegsverursachendes Land jemals getan hat. Es ist interessant, dass das im Ausland weit mehr geschätzt wird als in unserem Land selbst. Ich möchte da Eli Rosenbaum zitieren, den Chefsyndikus des Jüdischen Weltkongresses, der mir mal sagte: "Ich verstehe euch Deutschen nicht. Ihr habt schreckliche Fehler getan, unglaubliche Verbrechen wurden begangen. In jedem Krieg werden Verbrechen begangen. Noch nie hat ein Staat versucht, selbst die eigenen Verbrechen aufzuklären. Das tun sonst immer nur die Anderen. Ihr habt das gemacht und das muss man anerkennen."
Wenn Sie ihre 15 Jahre in der Zentralstelle anschauen. Was würden Sie heute anders machen?
Nichts! Beliebt macht man sich mit dem Beruf aber nicht. Da kommen die Täter und Verwandten hinterher und sagen, du bist zu hart. Dann kommen die Opfer und sagen, du bist zu weich.
Womöglich war das Urteil gegen den 101-jährigen schon das letzte in Deutschland. Weil es keine Täter und Zeugen mehr gibt. Was wird aus der Zentralstelle dann?
Die Frage über eine Zukunft der Zentralstelle gibt es schon sehr lange. Ich denke, dass aus dem wertvollen und umfangreichen Archiv der Zentralstelle eine Art Forschungseinrichtung werden kann. Das Archiv ist so immerhin einmalig auf der Welt.
Zur Person: Kurt Schrimm, geboren 1949 in Stuttgart, war von 2000 bis 2015 Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Bereits 1986 war ihm die Aufgabe des zuständigen Staatsanwalts für Ermittlungsverfahren wegen Mordes im Zusammenhang mit nationalsozialistischen Gewaltverbrechen für den Oberlandesgerichts-Bezirk Stuttgart übertragen worden. Schrimm ermittelte etwa gegen den 1987 festgenommenen und 1992 zu lebenslanger Haft verurteilten SS-Oberscharführer Josef Schwammberger. Über seine Arbeit hat er ein Buch geschrieben: "Schuld, die nicht vergeht- den letzten NS-Verbrechern auf der Spur".