An der Skulptur der Grafikerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz auf dem Käthe-Kollwitz-Platz im Stadtteil Prenzlauer Berg in Berlin kleben Spätzle. Unbekannte hatten das Denkmal in der vergangenen Woche mit der schwäbischen Spezialität beworfen. Auslöser der Schwaben-Debatte aber war Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) mit seiner Bemerkung, die Schwaben sollten sich besser anpassen und lernen, dass es in Berlin „Schrippen“ und nicht „Weckle“ heiße. Foto: dpa

Die Kritik des Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Thierse an den Schwaben in Berlin zieht weiter Kreise: Für den Soziologen Andreas Kapphan werden Ressentiments bedient. Er warnt vor einer Gefährdung der politischen Kultur in Deutschland.

Berlin – Die Kritik des Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Thierse an den Schwaben in Berlin zieht weiter Kreise: Für den Soziologen Andreas Kapphan werden Ressentiments bedient.

Herr Kapphan, sind die Schwaben in Berlin Integrationsverweigerer?
Nein, das sind sie nicht. Genauso wenig wie jede andere Gruppe, die nach Berlin kommt. Jede Gruppe, die nach Berlin kommt, hat spezifische Formen, sich die Stadt zu eigen zu machen und Teil der Stadt zu werden.

Es gibt in Berlin schwäbische Restaurants, schwäbische Lebensmittelgeschäfte, den Verein der Baden-Württemberger in Berlin. Bei muslimischen Migranten würde man sagen: Sie haben sich in ihrer Parallelgesellschaft schön eingerichtet.
In der Tat ist es bezeichnend, dass die Schwabendebatte mit dem gleichen Vokabular geführt wird wie die Integrationsdebatte. Und es ist bezeichnend, dass die Integrationsdebatte Schlagseite hat: Immer wieder wird bei sozial schwächeren, ärmeren Zuwanderern ein Problem mit der Integration ausgemacht. Wenn man sich aber anschaut, welche Zuwanderergruppen sich sozial eher separieren, dann sind das durchweg Gruppen mit einem hohen sozialen Status. Das gilt etwa für die Japaner in Düsseldorf ebenso wie für die jüdischen Einwanderer in Toronto. Aber bei ihnen wird es eher nicht zum Thema gemacht.


Was bedeutet das für die Schwaben-Debatte?
Die Verknüpfung der Integrationsdebatte mit den Schwaben macht klar, dass in der Integrationsdebatte immer ganz einfache Ressentiments bedient werden.

Die Schwaben in Berlin leben aber doch eben nicht mit dem Stigma, sozial schwach zu sein . . .
Nein, im Gegenteil, es wird gesagt, dass die Schwaben besonders reich und besonders geizig sind. Es wird gesagt, dass sie im großen Stil Häuser in Prenzlauer Berg und anderswo in Berlin kaufen und damit dafür verantwortlich sind, dass die Mieten steigen und angestammte Mieter sich das Quartier nicht mehr leisten können.

Ist da was dran?
Die Schwaben, die ich in Berlin kenne, sind zum Teil stinkreich und zum Teil Hartz-IV-Bezieher. Für Schwaben in Berlin gilt – wie übrigens auch für andere Gruppen: Die soziale Spannweite ist viel größer, als das in der öffentlichen Debatte abgebildet wird. Offensichtlich werden die Schwaben in Berlin aber als Minderheit identifiziert und wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Eigenarten diskriminiert. 

Sticht der Schwabe womöglich nur stärker heraus als der Hesse, Bayer oder Pfälzer?
Nein, das ist es nicht. Man kann jede Gruppe mit Stereotypen belegen.

Als die Bundesregierung 1999 nach Berlin zog, stand „Rheinländer raus“ an der Friedrichstraße. Warum war es mit dem Rheinländer-Bashing so schnell wieder vorbei?
Der Rheinländer war damals das Synonym für die Bundesbeamten. Und die Befürchtung der Berliner, die „Rheinländer“ würden ganze Quartiere aufkaufen, hat sich eben nicht bewahrheitet. Die Stadt Berlin hatte damals Jahre mit Bevölkerungswegzug hinter sich, der Wohnungs- und Mietenmarkt war vergleichsweise entspannt. Das hat sich aber nach 2001 geändert, Berlin gewinnt bis heute viele neue Einwohner, Wohnraum wird knapp und teuer.

„Dahinter steht die reale Angst, aus seinem liebgewordenen Quartier ziehen zu müssen“

Das heißt, „Schwaben raus“ meint eigentlich „Yuppies raus“ oder „Eat the rich“ (Friss die Reichen)?
Gemeint ist vermutlich das Gleiche: Es geht um die Angst, dass mit dem Zuzug von Reicheren im Quartier der Wohnraum und die Waren des täglichen Bedarfs teurer werden, so dass man es sich selbst irgendwann nicht mehr leisten kann. Mit dieser Perspektive kann man in Berlin gut mobilisieren, weil es viele Menschen gibt, die sich die Aufwertung der Quartiere tatsächlich nicht leisten können. Dahinter steht die reale Angst, aus seinem liebgewordenen Quartier ziehen zu müssen. Die Erfahrung zeigt, dass die Mieten im Bestand weniger schnell steigen und dass es vor allem Probleme bei der Suche einer neuen Wohnung gibt. Wer im Quartier umziehen will, kann das vielfach nicht mehr, weil er die neue Miete nicht mehr bezahlen könnte.

Der Hass gründet also auf einem realen sozialen Problem und wird bei einer vermeintlich ethnischen Gruppe, also den „Schwaben“, abgeladen?
Ja, wir haben ein soziales Problem, einen hohen Anteil von Armen, Arbeitslosen und Niedrigverdienern in Berlin. Schwierig ist, dass die sozialen Debatten immer wieder mit ethnischen Gruppen besetzt werden.

Zum Beispiel?
In der deutschen Geschichte hat eine ethnische Zuschreibung von Ängsten mit Türken oder Gastarbeitern stattgefunden, also Zuwanderergruppen, die oft statusniedrige Jobs hatten. Wir kennen aber auch das andere Beispiel. Im Dritten Reich hat man sich die Juden dafür ausgesucht. Eine Gruppe, die keineswegs durchweg sozial niedrig angesiedelt war, sondern fest verwurzelt, bestens integriert und das gesellschaftliche und kulturelle Leben der Großstädte, allen voran Berlins, repräsentierend. Man hat sie um ihre gesellschaftliche Stellung beneidet. Wir wissen, mit welchen Folgen diese Ressentiments für eine Mobilisierung der Bevölkerung genutzt wurden. Ich wundere mich sehr, dass es Personen gibt, die diese Lehre aus der Zeit nicht ziehen und leichtfertig einen Schwaben-Hass anzetteln.

Sie sehen also im Schwaben-Hass ein gefährliches Potenzial?
Er ist gefährlich, weil das Ressentiment ausbaufähig ist. Ich sage nicht, dass es schon so weit ist. Ich glaube auch nicht, dass es am Ende tatsächlich die Schwaben abbekommen. Es ist aber für die politische Kultur in Deutschland sehr gefährlich.

Und wie erklären Sie sich, dass Bundestagsvize Wolfgang Thierse die Debatte mit seinem Interview noch einmal befeuert hat?
Herr Thierse weiß sehr genau, welche Lehren aus dem Nationalsozialismus gezogen werden müssen. Er hat sich in seinen politischen Funktionen wiederholt vehement gegen Rechtsextremismus und Rassismus gewandt. Das rechne ich ihm hoch an. Ich denke jedoch, dass die Bemerkungen über die Schwaben in Berlin nicht sehr klug waren – selbst wenn er sie lustig gemeint hat.