Michael Mennel: "Personen, die vor Jahren in einem Heim gelandet wären, betreuen wir heute in den eigenen vier Wänden." Foto: Graf

Warum geht die Zahl psychisch Erkrankter in die Höhe? Der Fachbereichsleiter Sozialpsychiatrie der BruderhausDiakonie spricht über Tabus und Hilfsangebote.

Zollernalbkreis - Die Zahl psychisch Erkrankter gehen in die Höhe. Genügen die gemeindenahen Hilfsangebote im Kreis? Was ist der Grund für die hohen Zahlen, wie werden Erkrankte aufgefangen? Anlässlich "25 Jahre BruderhausDiakonie im Zollernalbkreis" haben wir mit Michael Mennel, Fachbereichsleiter Sozialpsychiatrie, gesprochen.

Die Psychiatrien quellen über, Psychotherapeuten haben keine Kapazitäten: Reicht wenigstens die gemeindenahe Unterstützung der BruderhausDiakonie im Kreis aus?

Wir und die anderen Träger – die Lebenshilfe Zollernalb und der Verein für gemeindenahe Psychiatrie – bilden einen gemeindepsychiatrischen Verbund. Nur als System können wir Menschen mit besonders schweren psychischen Erkrankungen vor Ort versorgen. Die BruderhausDiakonie ist dabei ein Akteur von mehreren.

Genügt das Angebot des Verbunds im Kreis?

Nehmen wir als Beispiel Corona. Wegen Corona steigt die Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen, vor allem Depressionen. Diese Menschen erleben wir allerdings noch nicht. Aber gerade in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gehen die Zahlen sehr in die Höhe. Diese Menschen werden wohl mit zeitlicher Verzögerung in die Eingliederungshilfe vor Ort kommen. Viele sind derzeit in Therapien und der Reha. Aber noch nicht an dem Punkt, an dem sie im Alltag Unterstützung brauchen. Wir haben drei Unterstützungszentren in Albstadt, Hechingen und Balingen. Von dort aus helfen wir.

Wie unterstützen Sie?

Von der Einstellung "Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf müssen in ein Wohnheim" haben wir uns schon lang verabschiedet. Die Menschen sollen die Möglichkeit haben, an ihren Wohnorten zu bleiben. Das ist auch eine Richtschnur des Bundesteilhabegesetztes. Wir mieten also Wohnungen an, arbeiten dann mit den Menschen in ihrem Zuhause. Bei steigendem Bedarf mieten wir weitere Wohnungen an.

Abgesehen von Corona: Was läuft schief in der Gesellschaft? Weshalb wächst Bedarf so schnell?

Depressionen treten häufiger auf. Psychosen und andere Krankheiten halten sich dagegen stabil. Da wir in den vergangenen Jahren viele Hilfsangebote im Kreis aufgebaut haben, werden die Menschen jetzt "sichtbarer". Früher hielt man sich mit einer chronischen psychischen Erkrankung nur zuhause auf. Durch die Angebote trauen sich Betroffene das erste Mal raus. Dadurch, dass wir konstant vor Ort sind, erreichen wir die Menschen früher, und das ist sehr gut. Denn je länger man unbehandelt bleibt, umso schwieriger wird’s, wieder "hochzukommen".

Ist der einzige Grund für die hohen Zahlen, dass man die Menschen nun »draußen« erlebt?

Nein. Familiäre Unterstützung ist in den vergangenen Jahrzehnten schwächer geworden, familiäre Netze sind ausgedünnt. Dabei sind Freundschaft und Familie für Betroffene besonders wichtig

Und welche Rolle spielt das hohe Tempo, in dem die Gesellschaft unterwegs ist?

Für viele Menschen ist das Thema Selbstoptimierung ein Problem. Der Druck ist allgegenwärtig. Das beginnt schon mit den manipulierten Bildern in sozialen Netzwerken, damit man besser aussieht. Und diese "Kultur von Erfolg" kommt dazu: Wenn ich mich nur anstrenge, dann kann ich das schaffen. Es gab schon immer Menschen, die das eine oder andere schlicht nicht schaffen konnten oder können. Man lügt sich in die Tasche, wenn man behauptet, mit genügend Engagement schafft man alles.

Was sollten Gesellschaft, Staat und Kirchen da präventiv tun?

Wir sollten ein anderes Menschenbild in den Vordergrund rücken. Das tut die BruderhausDiakonie bereits. Eine Kultur, in der man scheitern darf und Schwäche zeigen kann, ist eine viel humanere Kultur. Wir alle, spätestens wenn wir alt werden, werden die Erfahrung machen, dass wir nicht mehr unter den vorderen zehn Prozent sein können.

Der Selbstoptimierungsdruck beginnt schon in der Schule, spätestens im Arbeitsleben.

Ja. Andererseits ist es in Ordnung, wenn Menschen Leistung bringen wollen. Aber das Mantra: "Wenn Du Dich nur anstrengst, wirst Du das schaffen" ist bisweilen eine Lüge. Insbesondere junge Menschen kommen da an Grenzen. Etwas gut zu können, ist eine wichtige Erfahrung. Aber auch scheitern gehört zum Leben.

Wie reagiert Ihre Stiftung auf die veränderten Umstände?

Unser Credo ist, dass sich unsere Hilfen an die Bedürfnissen der Klienten anpassen – und nicht umgekehrt. Das sagt sich leicht, war aber jahrzehntelang anders. Personen, die vor Jahren im Heim gelandet wären, betreuen wir heute in den eigenen vier Wänden.

Haben auch Sie Schwierigkeiten, geeignetes Personal zu finden?

Ja. Wir bekommen unsere Stellen aber besetzt. Das ist nicht überall so.

Es kann nicht ja nicht sein, dass Personal so belastet ist, dass es selbst Unterstützung benötigt...

Nein, auf keinen Fall. Alle, die bei uns anfangen, bekommen zudem Schulungen. Es gibt Gesprächsführungs- und Deskalationstraining und Leitungshintergrund – rund um die Uhr.

Ihr persönlicher Rückblick auf 25 Jahre BruderhausDiakonie, Ihre Sicht auf die Zukunft?

Es ist eine erfüllende Arbeit. Wir sind an wichtigen Themen dran. Rückblickend ist es uns und den anderen Trägern sowie der Landkreisverwaltung gelungen, das Versorgungssystem deutlich zu verbessern. So was fällt nicht vom Himmel, sondern ist entstanden, weil es hier viele engagierte Menschen gibt. Für die Zukunft ist es wichtig, dass wir weiter darauf schauen, dass Menschen gut betreut werden. Dazu gehört auch, dass man resümiert: Was ist gut gelaufen, was schlecht? Wir werden wachsam bleiben.

Info

Michael Mennel, Jahrgang 1965, studierte Sozialpädagogik und Diplompädagogik in Reutlingen und Tübingen.

1997 wurde Mennel Bereichsleiter der Sozialpsychiatrie Zollernalb bei der BruderhausDiakonie. Seit 2018 ist er dort Fachbereichsleiter der Sozialpsychiatrie für die Regionen Zollernalb, Tübingen und Freundestadt.

Die Sozialpsychiatrie – auch Gemeindepsychiatrie – hat die vernetzte psychiatrischen Versorgung in den Gemeinden als Aufgabe. Ihr Ziel: Ausgrenzung und eine institutionelle Unterbringung psychisch kranker Menschen zu vermeiden.

Die Stiftung hat im Zollernalbkreis Standorte in Albstadt, Balingen und Hechingen, von denen aus sie berät, begleitet und hilft.