Auch wenn viele die ganz großen Namen im Line-Up vermissten, erlebten rund 60 000 Menschen am Wochenende in Neuhausen ob Eck ein perfektes Festival. Foto: /Hahn

Heiß, trocken und staubig zeigte sich das Gelände beim diesjährigen „Southside“- Festival. Alles andere als staubtrocken war dagegen, was sich auf den Bühnen abspielte. Von den Ärzten über Billy Talent und Peter Fox bis zu Marteria und Muse war wieder für jeden was dabei.

60.000 Menschen, die sich vor der Bühne in den Armen liegen, in der Sonne brutzeln, sich im Moshpit wegschubsen, nur um sich einen Moment später aufzuhelfen, wenn jemand gestürzt ist, die auf einander achten, sich kennenlernen, gemeinsam feiern, singen, tanzen und Momente teilen, die sie vielleicht nie vergessen werden. Das war das „Southside“-Festival 2023.

Wieder auf Kurs

Nach einigen Startschwierigkeiten im ersten Nach-Corona-Jahr 2022 sei man nun wieder auf dem Weg zum Niveau von 2019 zurückzufinden, meinte Veranstalter Benjamin Hetzer bei der Pressekonferenz am Sonntag. Schwer sei es nach wie vor, ausreichend Personal zu akquirieren. Rund 5000 Personen sorgten für einen möglichst reibungslosen Ablauf, Gastronomie und Security inklusive.

Und wie immer gab es nicht nur viel zu hören, nämlich insgesamt rund 90 Sänger und Bands, sondern auch Kurioses und Kreatives zu entdecken. Denn die Looks der Festivalgänger sind immer wieder ein Highlight. Ob Weihnachtsmann-Kostüm, Frosch-Hut, eine dekorierte Schwimmnudel mit Namen „Brudi“, Statement-Socken mit der Frage „Wo ist mein Zelt?“, Hawaiihemden, die so bunt sind, dass sie beinahe schon das Auge schmerzen, oder im Moshpit eher ungeeignete Schlappen, die schon bessere Tage gesehen haben – es gibt nichts, was man hier in Neuhausen ob Eck nicht sieht.

Diebstähle und Sexualdelikte

Wo viele Menschen bei hohen Temperaturen nah beieinander sind, bleiben Reibereien und unerfreuliche Vorfälle nicht aus. Auch wenn das „Southside“-Festival, wie alle Verantwortlichen betonten, nach wie vor zu den sehr friedlichen Festivals gehört, so auch dieses Jahr. Im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet die Polizei einen Zuwachs an Straftaten um rund 32 Prozent, wie Stephan Behnke, Leiter der Schutzpolizeidirektion des Polizeipräsidiums Konstanz sagte. Es habe Jahre zuvor jedoch auch schon eine höhere Anzahl an Straftaten gegeben. Das sei alles noch im Rahmen. Es handle sich dabei um festivaltypische Delikte, sprich Diebstähle – „Stichwort Pfandflaschensammler und Zeltaufschlitzer“ – Betäubungsmittelfälle, Betrugsversuche mit falschen Tickets und Körperverletzungen. Bei einer Auseinandersetzung sei auch ein Polizeibeamter leicht verletzt worden.

Auch drei Sexualdeliktsfälle habe es, Stand Sonntagnachmittag, gegeben. In allen Fällen wurden die Täter jedoch laut Behnke schnell gefunden und des Geländes verwiesen. Dass hier die Abläufe so gut funktioniert hätten, sei sehr wichtig für das allgemeine Sicherheitsgefühl beim Festival, so Behnke. Ein K.O.-Tropfen-Verdachtsfall sei über die „Wo geht es nach Panama?“-Stelle auf dem Festival, die bei Übergriffen oder Belästigungen kontaktiert werden kann, bekannt geworden. Dieser werde soweit wie möglich kriminaltechnisch untersucht.

Das Panama-Konzept war in diesem Jahr um sogenannte Safe Spaces als Rückzugsorte und ein Awareness-Team erweitert worden, so der Veranstalter. Es habe sich bewährt und werde inzwischen auch bei Fußball-Bundesligist Borussia Dortmund angewandt.

Schwerer Unfall mit Todesopfer

Ein schwerer Unfall überschattete den Festivalsonntag. So war es gegen 11.30 Uhr auf der B14 nach der Abzweigung Richtung Emmingen-Liptingen zu einer Kollision von zwei Autos gekommen. Dabei starb eine Fahrerin. Im anderen Auto saßen laut Polizei Festivalbesucher, die auf dem Heimweg waren. Zwei wurden schwer verletzt, zwei leicht.

Rund 3000 Einsätze beim Festival selbst verzeichnete der Sanitätsdienst in diesem Jahr. Unter 1000 waren dabei umfassenderer Art, was auf einen ruhigen Verlauf schließen lasse, so Daniel Ganther vom Sanitätsdienst. Sonst sei es immer knapp die Hälfte. Bei vielen Patientenkontakten sei es um kleine Dinge wie Zecke entfernen, Pflaster oder Kopfschmerztablette reichen gegangen. Auch ein paar hitzebedingte Fälle habe es gegeben, außerdem vor allem Verletzungen im Bereich der Beine und Füße. Rund 460 Helfer waren im Einsatz.

Über 90 Mal wurden Patienten vom Festival in eine Klinik gefahren, sagte Notarzt Ekhard Stegmann. 16 davon waren Notfälle, einmal war der Hubschrauber im Einsatz. Damit liege man deutlich unter den Vorfallszahlen der Vorjahre.

Die Feuerwehr war mit 150 Kräften vor Ort. Weitere 250 Einsatzkräfte waren auf Abruf. Es gab lediglich drei kleine Einsätze wegen erhitzter Gaskartuschen, hieß es bei der Pressekonferenz am Sonntag. Insgesamt wurde also recht friedlich und ereignisarm gefeiert in Anbetracht der Menge an Menschen.

Neuer Opening-Act

Was das Musikprogramm angeht, war in diesem Jahr eine besondere Eröffnung des Festivals durch die Southside Festival Brass Band neu. 84 Musiker und drei Sänger durften vor rund 12 000 Menschen auf der Blue Stage auftreten. Man wünsche sich nun, ein fester Bestandteil des Festivals zu werden, meinte Neuhausen ob Ecks Bürgermeisterin Marina Jung.

Am Freitag hatten Acts wie die Ärzte, Queens of the Stone Age und Placebo für einen gelungenen Start ins Wochenende gesorgt. Und es sollte noch viel mehr kommen.

Im Abrissmodus mit Billy Talent und Kraftklub

Laut wurde es am Festivalsamstag schon nachmittags. Wenn die Donots kommen, kann man sich stets auf ein schweißtreibendes Konzert einstellen. So auch diesmal. Das Publikum brauchte nicht nur viel Stimmkraft, um Songs wie „Whatever happened to the 80s“ und „So long“ mitzusingen, sondern auch Muskelkraft, um die Bandmitglieder beim „Stagediven“ im Stehen zu halten. Und dann waren da natürlich noch die Moshpits, die sich überall auftaten.

Eine Verschnaufpause gab es danach nicht. Bosse besang die „schönste Zeit“, blieb aber nicht lange allein. Die Donots stürmten noch einmal die Bühne, und es kam zum Schlagabtausch darüber, wer die bessere Kondition habe.

Bosse

„So oder so“, um es mit Bosses Worten zu sagen, ging es weiter – auch als Bosses Keyboarderin sich beim Springen während des Gigs am Fuß verletzte. Show must go on. Auf den anderen Bühnen sorgten Anti-Flag derweil für totale Eskalation, und Provinz und ihre Fans feierten „Liebe zu dritt“.

In den Genuss von ein bisschen Star-Feeling kamen die Fans beim - nach mehr als zehn Jahren Solo-Projekt-Pause - mit Spannung erwarteten Auftritt von Peter Fox. Er holte nämlich einige Fans auf die Bühne und ließ sie dort zum gewohnt coolen Reggae-Hip-Hop-Vibe tanzen.

Peter Fox Foto: dpa

Mit Sonnenbrille und im Morgenrock begrüßte der Berliner die Menge, und spielte auch einige seiner neuen Songs, die bis auf „Zukunft pink“ aber natürlich nicht so sehr verfingen wie die Powerklassiker „Schüttel deinen Speck“, „Stadtaffe“ und „Alles neu“. Fürs Auge gab’s auch was: coole Tanzchoreografien mit Freestyle-Einlagen, die Club-Atmosphäre aufs Festivalgelände brachten.

Den Moshpit bei Billy Talent hoffentlich ohne Knöchelbruch überleben – diesen Wunsch schickte ein Festivalgänger per Twitter im Vorfeld des Auftritts an die LED-Wand der Green Stage. Und er war alles andere als abwegig.

Foto: dpa

Unsterbliche Hymnen wie „Try honesty“, „Fallen leaves“ und „Red flag“ machten es unmöglich still zu stehen. Erstere feiert übrigens als erste Single der Band 20. Geburtstag. Die Kanadier lieferten auf dem „Southside“ das, was sich die Fans erhofft hatten: das Beste aus zwei Jahrzehnten Rockmusik, jede Menge Energie und immer noch riesige Freude an Live-Auftritten.

Wer jetzt noch nicht in absoluter Hochstimmung war, der war es spätestens nach dem Late-Night-Auftritt von Kraftklub. „Kummer vergeht, Kraftklub besteht“, lautete ein Fan-Plakat in Anspielung auf das beendete Solo-Projekt des Frontmannes.

Und die Chemnitzer lieferten, was versprochen wurde: Abriss. Weil es neben „Songs für Liam“ und „Schüsse in die Luft“ einfach zu viele gute Lieder gibt, ließ die Band einen Ausgewählten aus dem Publikum am mitgebrachten Glücksrad drehen. Und mitperformen durfte der Glückliche auch gleich noch. Ein Festivaltag wie er im Buche steht.

Marteria und Casper lassen den letzten Abend nicht in Vergessenheit geraten

Ein letztes Mal ausrasten, Musik und Freiheit genießen hieß es am Festivalsonntag. Und der vermochte die Besucher mit hochsommerlichen Temperaturen auf die Probe zu stellen. Von den Strapazen der letzten Tage war den Musikfans aber nicht allzu viel anzumerken. Ob Abfeiern zum Punk von Zebrahead, Mitgrooven zum Indie-Rock von Two Door Cinema Club oder Tanzen zum träumerischen Elektropop von Chvrches – schon der Nachmittag zog einige Besucher vom Campingplatz aufs Gelände.

Ho Hey riefen die Fans, als die Folkrocker von The Lumineers die Blue Stage enterten. Und während Madsen einmal mehr Geschichte schrieben, entführte Rapper Trettmann mit „Knöcheltief“ in die West Indies. Cloud Rap mit einer Mischung aus coolem Vibe und sanftem Herzschmerz-Hip-Hop gab es von RIN mit Songs wie „Dior 2001“ und „Commitment Issues“.

Hochkarätige Acts warteten zum Schluss auf die Menge. Etwa Deutschrap-Aufsteigerin Badmómzjay mit starken Lines und Botschaften zum Thema Female Empowerment. Und natürlich Marteria, der stets ein Garant für eine Eskalation im positiven Sinne ist. Bei „OMG“, „Kids“ und „Feuer“ hörte man die Fans gefühlt fast so laut wie den Künstler. Und mit jeder Minute mehr stieg das „Adrenalin“ auf der Bühne und in der Menge, die man irgendwann fast nur noch springen sah.

Casper ließ seine Fans „Im Ascheregen“ tanzen, machte klar, dass „alles endet, aber nie die Musik“, besang das „Hinterland“ und brachte alle bei Songs wie „Sirenen“ und „Supernova“ zum Ausrasten. „Sag dir: Diese Welt ist perfekt“ rappte Casper auf einer Bühne mit Blumen um sich herum unisono mit seinen Fans. Und zumindest dieser Festivalabend war es: perfekt.

Den Abschluss durften die Rocker von Muse machen. Und denen war mit Songs wie „Supermassive Black Hole“ und „Hysteria“ der Jubel ihrer Fans gewiss. Ein würdiger Abschluss für ein Festivalwochenende voller Energie, guter Vibes, glücklicher Musikfans, besonderer Darbietungen und besonderer Ereignisse. Donots-Frontmann Ingo Knollmann fasste es für die glücklichen Festivalgänger, die nun wieder in den Alltag zurück müssen, sehr treffend zusammen: „Was für ein tolles Festival, was für tolle Momente“.

Wie geht es weiter?

Bleibt die Frage, wie es weitergehen wird. 2025 laufen die Verträge zur Nutzung des Take-off-Gewerbeparks, in dem normalerweise rund 3000 Mitarbeiter in 70 Unternehmen arbeiten, aus. Man werde 2024 nach dem Festival (21. bis 23. Juni 2024, Tickets gibt es ab Dienstag, 20. Juni 2023) in die Gespräche gehen, kündigte Heike Reitze, Geschäftsführerin der Betreibergesellschaft, an. Natürlich habe man auch ein Interesse daran, dass sich weitere Unternehmen im Gewerbepark ansiedeln, was für die Zukunft des Festivals zugegebenermaßen eher negativ wäre. Aber sie sei hinsichtlich einer Weiterführung des Festivals positiv eingestellt, machte sie bei der Pressekonferenz deutlich.