Viele Roma betteln auf Europas Straßen, ernten Ablehnung und Mitleid – doch wo sie herkommen, ist die Zukunft düster. Klicken Sie sich durch unsere Bildergalerie. Foto: Bock

In der Vorweihnachtszeit überschwemmen zigtausend bettelnde Roma die deutschen Fußgängerzonen. Bei den Behörden spricht man von mafiösen Strukturen. Doch eine Spurensuche in der Slowakei zeigt vor allem eines: bittere Armut mitten in der EU.

Stuttgart/Rimavská Sobota - Die Frau auf der Stuttgarter Königstraße reckt den Passanten einen Kaffeebecher entgegen. Wortlos verharrt sie in der Kälte. Ab und an klimpern ein paar Münzen im Gefäß. Die meisten Passanten beachten sie nicht. In Momenten, in denen sie sich unbeobachtet glaubt, füllt sie die Münzen in einen Nylonstrumpf um. Den holt später ein Mann ab, der ähnlich ärmlich aussieht wie sie selbst. Wie alt sie ist, kann niemand sagen. Das Leben hat sie schwer gezeichnet.

 

Seit Jahren strömen besonders im Advent immer mehr Roma aus Osteuropa zum Betteln nach Deutschland. „Das sind Familienclans, einige aus Rumänien, die meisten aber sind ungarische Roma aus der Slowakei“, sagt Schwester Margret. Die Franziskanerin betreibt die Franziskus-stube für Bedürftige und hat so ihre Erfahrungen mit den Bettlern. Die treten so massenhaft auf, dass sich die fromme Frau inzwischen mit dem Gedanken an Hausverbote trägt. „Das hat die Ausmaße von Drückerkolonnen angenommen“, sagt sie – glaubt aber nicht, dass Zwang im Spiel ist: „Das ist einfach ihre Art und Weise.“

Zehn Leute schlafen in einem Kleinbus

Große Reaktionsmöglichkeiten haben die Städte nicht. Betteln an sich ist nicht verboten. Immer öfter aber werden verstümmelte Gliedmaßen gezeigt, Hunde oder gar Kinder vorgeschickt. „So mancher im Rollstuhl braucht keine Wallfahrt nach Lourdes, um wieder gehen zu können“, sagt Hans-Jörg Longin vom Stuttgarter Ordnungsamt. Wird mit solchen Methoden gebettelt, schreitet die Stadt ein, erteilt Platzverweise, zieht das Bettelgeld ein. Auch Straftaten verzeichnet die Polizei immer wieder.

Die Bedingungen, unter denen die Roma in Stuttgart hausen, „spotten jeder Beschreibung“, so Longin. Nicht selten nächtigen zehn Leute in einem Kleinbus. Dass sie das Geld behalten dürfen, bezweifeln die Behörden. Seit Jahren beklagen sie mafiöse Strukturen. „Es ist schwer zu sagen, ob die Menschen freiwillig herkommen“, so Longin, „vermutlich sitzt der große Häuptling im Herkunftsland.“ Münchens OB Christian Ude hat deshalb seine Bürger aufgefordert, nichts zu geben: „Bitte seien Sie kaltherzig.“

Beim Stichwort Mafia fängt Csaba Horváth schallend an zu lachen. „Das ist nicht organisiert, das passiert im Rahmen der Familie. Da zwingen höchstens die Eltern die Kinder“, sagt er. Horváth sitzt in einem schweren Ledersessel im Büro des Bürgermeisters von Rimavská Sobota. Der hat ihn vor zwei Jahren als Roma-Beauftragten des kleinen Städtchens in der Südslowakei eingesetzt. Der Bezirk nahe der ungarischen Grenze, 1000 Kilometer von Stuttgart entfernt, gilt als Europas Bettlerhochburg. Von 83 000 Menschen dort sind 25 000 Roma.

„Bei den Roma arbeitet höchstens jeder Zehnte“

„Ich schätze, etwa die Hälfte davon ist derzeit in Österreich, Deutschland oder der Schweiz“, sagt Bürgermeister Jozef Šimko und lächelt verschmitzt. Auf den ersten Blick scheint der Primátor, wie der Rathauschef hier heißt, das Thema mit Humor zu nehmen. Doch er wird schnell ernst. „Ich bin selbst in einem Dorf aufgewachsen, in dem die meisten Einwohner Roma sind. Ich kenne die Probleme sehr gut.“ Er hat sie ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt.

Šimko erzählt eine kleine Geschichte. Als er unlängst im österreichischen Graz gewesen ist, hat ihn auf der Straße ein Saxofonspieler freundlich gegrüßt und mit Namen angesprochen. „Ich kannte den Mann gar nicht, aber er war offenbar aus unserer Stadt“, sagt er. Im Bezirk Rimavská Sobota herrscht die höchste Arbeitslosigkeit in der ganzen Slowakei. 37 Prozent. „Ich schätze, bei den Roma arbeitet höchstens jeder Zehnte“, sagt Šimko. Deshalb gehen viele betteln. „Die Probleme lassen sich nur mit einem langen Atem lösen“, sagt der Primátor, „wir müssen Ansprechpartner und Helfer sein.“

Diese Rolle obliegt vor allem Csaba Horváth. Zwangsvollstreckungen, Wohnungsprobleme, Arbeitslosigkeit – die Aufgabe ist unendlich groß. Und er weiß, dass seine Region im Ausland höchstens als Herkunftsort der Bettler erwähnt wird. Deshalb nutzt Horváth die Gelegenheit für Erklärungen. Sein Fazit: Die Lage der Roma ist eine Mischung aus Lebenseinstellung, Diskriminierung und aussichtsloser Arbeitsmarktlage.

Unvorstellbare Zustände – mitten in der EU

In den Fünfziger Jahren sind die Roma in der Slowakei per Gesetz sesshaft gemacht worden. Sie ließen sich vor allem im Süden und Osten des Landes nieder. „Sie waren diese Lebensweise nicht gewohnt und haben sie nur unter Widerstand hingenommen“, weiß Horváth. Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs unterlagen sie wie alle einer Arbeitspflicht. Sie waren besonders im Ackerbau tätig. Nach der Wende wurden die Staatsbetriebe privatisiert, Maschinen bewirtschaften jetzt die Felder. Die Menschen wurden massenhaft arbeitslos – zuerst die Roma. Sie sind es bis heute geblieben. Eine Familie kommt auf etwa 300 Euro Sozialhilfe. Wer arbeitet, verdient ähnlich wenig. Die Preise dagegen sind so hoch wie im Westen.

Was das bedeutet, zeigt sich in Dúžavská Cesta, einer Plattenbausiedlung aus den 70er Jahren. Die Einheimischen nennen sie „die schwarze Stadt“. Das Auto holpert über brüchige Straßen hinaus aus dem Zentrum. Und hinein in die Dritte Welt. Mitten in der Europäischen Union herrschen hier unvorstellbare Zustände. 1200 Menschen leben im Dreck, ohne Wasser und Strom. Beides ist vor 14 Jahren abgestellt worden, weil keiner dafür bezahlt hat. Massenhaft streunen Hunde durch die Siedlung. Es riecht nach offenem Feuer, mit dem geheizt und gekocht wird. Die Häuser sind rußgeschwärzt.

Roma distanzieren sich von der Bevölkerung

Arbeit hat hier keiner, die meisten waren schon zum Betteln im Ausland. Auch Alica Velochová. „Ich bin jahrelang nach Frankfurt, Nürnberg oder Stuttgart gefahren“, erzählt sie. „Ich bekomme 60 Euro Sozialhilfe, davon kann man nur hungern. Die Slowakei sollte sich dafür schämen, dass ihre Leute zum Betteln fahren müssen. Wir sind die Vergessenen.“ In Deutschland werde man gut behandelt, aber man könne den Leuten dort nicht erklären, warum man komme. Erbettelt habe sie im Monat etwa 300 Euro, erzählt die dürre Frau. Dafür sei sie wochenlang von der Familie getrennt gewesen und habe einen guten Teil für die Reisekosten gebraucht. „Mein Traum ist, in Deutschland zu leben und zu arbeiten“, sagt sie.

Stattdessen kümmert sie sich um das Hygienezentrum, das die Gemeinde in der Siedlung gebaut hat. Dort können die Bewohner gegen Gebühr duschen oder Wäsche waschen. Im selben Gebäude hat Katarina Jankovicová ihr Büro. Die Fotos an der Wand zeigen lachende Kinder. Die Sozialarbeiterin kooperiert mit Ärzten und Schulen, um die ärgsten Probleme zu lösen. „Die Arbeit ist mühsam und langfristig“, sagt sie. Viele Roma distanzierten sich auf Grund ihrer Lebensweise und Mentalität von der übrigen Bevölkerung – und umgekehrt. Die Kinder seien sehr frei und ohne Regeln erzogen. „Man muss das Gute in ihnen fördern und den Unterricht an den Schulen anders konzipieren“, sagt die Sozialarbeiterin. Viele Gemeinden täten, was sie können.

Ein tristes Dorf folgt auf das nächste. Wo immer man hinkommt, hört man ein Wort: „Munka.“ Arbeit. Die wäre für jeden die Lösung. Doch wo sie herkommen soll, weiß niemand. Attila Lakatos ist selbst Rom und Ortsvorsteher eines 164-Seelen-Dorfes. In seinem bescheidenen Büro wärmt ein Ofen. An der Außenfassade nagt der Zahn der Zeit. „Ich bekomme vom Staat 1400 Euro im Monat, mit denen ich haushalten muss“, erzählt er. Das Geld reicht gerade mal für die Straßenbeleuchtung und ein paar Hilfsarbeiter.

Hoffnungsschimmer gibt es kaum

„Einige Leute leben in schlimmen Verhältnissen“, sagt Lakatos bei einem Rundgang durchs Dorf. In einem asbestverseuchten baufälligen Haus wohnen 30 Menschen. „Wenn ich Geld hätte?“, fragt der Ortsvorsteher belustigt. „Dann würde ich dafür sorgen, dass die Roma-Kinder regelmäßig die Schule besuchen. Die Eltern können sich die Ausbildung nicht leisten.“ Vor kurzem wollte er Sozialwohnungen bauen. Zuschüsse hätte es nur gegeben, wenn die Gemeinde 15 Prozent beisteuert. 15 000 Euro. Utopisch. Was noch helfen kann? Lakatos überlegt und antwortet: „Arbeit. Und ein Wunder.“

Hoffnungsschimmer gibt es kaum. Einer der wenigen ist das Zentrum Ternipe. In einem Haus der katholischen Kirche haben junge Roma-Lehrer, die es selbst aus den ärmlichen Verhältnissen heraus geschafft haben, eine Nachhilfeeinrichtung gegründet. Dort lernen 70 Kinder nachmittags kostenlos Mathematik, Englisch, Slowakisch und Informatik. „Ihre Noten in der Schule verbessern sich“, sagt Štefan Vavrek und zeigt auf dem Computer Leistungskurven. Doch der Lichtblick ist in Gefahr. Bei der Projektförderung der Regierung ist Ternipe für das nächste Jahr leer ausgegangen. Im März droht das Aus. Kein Geld für die Miete.

„Man beginnt erst langsam, sich mit den Roma zu befassen“, sagt Voytech Györ. Er ist so etwas wie der Roma-Älteste der Gegend. „Wir wollen hier bleiben und ein nützlicher Teil der Gesellschaft werden“, sagt er. Man müsse ihnen aber auch die Möglichkeit dazu geben. EU-Gelder für Roma-Projekte versickerten regelmäßig anderswo. „Auch wir sind in der EU“, sagt er nachdenklich, „man muss diese Gelder ihrer Bestimmung zuführen.“ Ansonsten bleibe vielen nur das Betteln. „Man darf die Leute nicht dafür verurteilen, dass sie in Not sind“, sagt Györ, „wenn meine Enkel einmal betteln müssten, wäre das schrecklich für mich.“

Die Frau auf der Stuttgarter Königstraße verschwindet in der tiefschwarzen Nacht. Schwester Margret hat unlängst versucht, zwei der Bettler in Arbeit zu vermitteln. Als es so weit war, sind die beiden verschwunden. „Die Lage der Roma ist ein Riesenproblem“, sagt sie mit Resignation in der Stimme. „Das müsste der Staat dort lösen.“ Doch der steht selbst vor einem Scherbenhaufen.