Umeet Singh (links) im Sikh-Tempel in Stuttgart-Zuffenhausen. Nach der Zeremonie wird gemeinsam gegessen. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Wegen ihrer Turbane und den langen Bärten der Männer werden Sikhs oft für religiöse Fundamentalisten gehalten. Woran glauben sie? Ein Besuch im Tempel von Stuttgart-Zuffenhausen.

Stuttgart - Der Tempel des Gurus sieht nicht aus wie ein Tempel. Ein schmuckloser Bau, eingeklemmt zwischen Flachdachgebäuden irgendwo im Zuffenhausener Industriegebiet. Von innen ist das dumpfe Klappern von Blechtöpfen zu hören, Stimmengewirr, leise, orientalische Musik. Kinder stehen im Vorraum, stapeln ihre Schuhe in ein großes Holzregal und wickeln sich bunte Tücher um die Haare. In der Luft hängt der Geruch von Curry und indischem Chai-Tee, die pralle Mittagssonne drückt durch die Metalltüren.

Hier, in diesem schlichten Flachbau in der Erligheimer Straße, ist das „Tor zum Guru“, die Gurdwara, wie Sikhs ihr Gebetshaus nennen. Hier treffen sich jeden Sonntag 150 Gläubige aus der Region, um gemeinsam zu beten, zu essen. „Kaum jemand in der Stadt kennt unseren Tempel“, sagt Umeet Singh, Vertreter des Sikh Verbands Deutschland. Über seine Religion, das weiß er, ist überhaupt nur wenigen Menschen in Deutschland etwas bekannt. Singh, langes, hellblaues Gewand, arbeitet als Projektleiter im Maschinenbau bei Bosch. Er ist Ende 30, aber der volle, dunkle Bart lässt ihn älter wirken. „Wegen der Bärte und der Turbane werden wir oft in eine Schublade gesteckt“, sagt Singh und meint damit: in eine Schublade mit muslimischen Fundamentalisten. Man sehe an den Blicken, sagt Singh, dass viele ihn für einen Terroristen halten. „Taliban“, rufen sie ihm manchmal in der U-Bahn nach. Ernst nimmt er das nicht mehr – mit Islamismus haben Sikhs nichts zu tun.

„Es gibt keine Hindus oder Muslime, es gibt nur Menschen“

Die Religion entstand im 15. Jahrhundert im nordindischen Punjab und geht zurück auf den Wanderprediger Guru Nanak. Nanak kritisierte das indische Kastenwesen und stellte religiöse Rituale infrage, gründete eine Religion, die Menschen verschiedenen Glaubens vereinen sollte. „Es gibt keine Hindus oder Muslime, es gibt nur Menschen“, soll der Prediger gesagt haben. Noch heute lehnen Sikhs Ungleichheit zwischen Menschen ab, zwischen Frauen und Männern, Hindus oder Muslimen, Armen und Reichen. Inzwischen gilt der Sikhismus als fünfte Weltreligion, rund 25 Millionen Gläubige gibt es insgesamt, die meisten davon leben in Nordindien. In Deutschland zählt die Glaubensgemeinschaft etwa 20 000 bis 25 000 Anhänger.

Nur selten kommen Fremde zum Tempel, obwohl er für jeden offen stehe, sagt Singh. Andere zu etwas überreden liegt nicht in der Natur der Sikhs. Gegen die Unwissenheit wollen sie trotzdem etwas tun, denn die ist ihnen oft zum Verhängnis geworden. Zum Beispiel Ende April, als zwei islamistische Jugendliche einen Bombenanschlag auf ein Gebetshaus in Essen verübten, wohl aber einen Hindu-Tempel treffen wollten. Ein Sikh wurde dabei schwer verletzt. Löst das Angst aus?

Rituale und Dogmen werden im Sikhismus abgelehnt

Aus dem Gebetsraum dringt nun Musik. Die Zeremonie hat gerade begonnen, der Raum ist fast voll und erfüllt von Farben. Angst ist hier nirgendwo spürbar, über dem Raum liegt eher eine Atmosphäre von Gelassenheit. Rote, grüne, blaue Turbane auf der rechten Seite, wo die Männer sitzen. Seidene, paillettenbestickte, bunte Tücher, glänzende Armreife auf der linken Seite, wo die Frauen sitzen. Ventilatoren surren träge an der Decke, meist übertönt von den rhythmischen Trommelschlägen, den zitternden Melodien des Harmoniums und dem meditativen Gesang. Einige haben ihre Augen geschlossen, wiegen ihre Oberkörper im Rhythmus der Tabla, der Trommel.

„Rituale und Dogmen lehnen wir ab“, sagt Umeet Singh, der im Schneidersitz auf den weichen Teppichen sitzt wie alle hier. Singh übersetzt den Gesang des Predigers. „Es geht viel um Respekt und Demut vor den Menschen, der Schöpfung“, sagt er. Und darum, dass man an seinem Handeln gemessen werde, nicht an der eifrigen Wiederholung bestimmter Gebete. Auch wenn, wie das Deutsche Informationszentrum Sikhreligion anmerkt, das Widerholen des Gottesnamens und das Aufsagen täglicher Gebete durchaus zu den festgeschriebenen Prinzipien des Sikh-Glaubens gehört.

„Wir verstehen uns als Schüler auf der Suche nach Weisheit“, sagt Singh. Überhaupt scheint Weisheit eine zentrale Rolle zu spielen im Sikhismus. Die Weisheit sei eigentlich Gott: formlos und geschlechtslos. Oder andersrum: „Gott ist die Weisheit.“ Auf einem Podest in der Mitte des Gebetsraums liegt, eingehüllt in grüne Tücher, bedeckt von Blumen, „Guru Granth Sahib“. So nennen die Sikhs das heilige Buch. Sie verehren es als die letzte religiöse Autorität, als den elften Guru – und den Tempel als Ort, der Zugang zu den Weisheiten darin gewährt. Das Buch ist eine Sammlung spiritueller Lehren von Heiligen aus unterschiedlichsten Traditionen – Weisheit ist schließlich religionsübergreifend, wie Singh sagt.

Ziel eines Sikhs ist es, das eigene Ego zu überwinden

Woran sie glauben? Singh sucht nach Worten. „An den einen Schöpfer, der durch uns alle wirkt.“ Und die Religion? Sei eher ein spiritueller Lebensweg, die Suche nach einer Art Erleuchtung – nicht unbedingt in diesem Leben. „Es geht eigentlich um die Vereinigung mit Gott“, mischt sich Jaspreet Kaur ins Gespräch, „und die findet man durch tugendhaftes Leben.“ Die junge Frau trägt einen roten Turban, darüber ein grünes Seidentuch und eine weite Hose in der selben Farbe. Sie lächelt, fast jeder hier in der Gurdwara lächelt. Eine positive Lebenseinstellung, Akzeptanz, Respekt und das Engagement für andere, für die Gemeinschaft, die Umwelt – all das sei zentral für Sikhs. „Ziel ist es, das eigene Ego zu überwinden“, sagt Kaur, „das, was wir als Räuber bezeichnen: Wut, Gier, Stolz, Begierde und weltliche Verhaftung.“

Und sich für Gerechtigkeit einzusetzen, sagt Kaur – notfalls mit dem Schwert, das zeigt die Geschichte der Religion. Immer wieder kam es in Nordindien zu blutigen Konflikten, meist ging es dabei um mehr religiöse Freiheit. Zuletzt 1984, als die indische Armee Indira Gandhis den Goldenen Tempel von Amritsar stürmte und mehrere tausend Sikhs tötete, darunter 200 bis 240 Widerstandskämpfer. Im ganzen Land kam es danach zu Kämpfen, Indira Gandhi wurde schließlich von ihren Sikh-Leibwächtern ermordet. Wer kämpft, tue das nicht aus Eigennutz, nicht aus Zorn, sagt Jaspreet Kaur, sondern gegen Ungerechtigkeit.

Ein Sikh nimmt keine Rauschmittel, schneidet die Haare nie

Die 27-Jährige ist Softwareentwicklerin, aber hier, in der Gurdwara, bringt sie Kindern die Sprache ihrer Religion bei – Punjabi. 20 Kinder sitzen in dem kargen, kühlen Kellerraum, malen kunstvolle Schriftzeichen in ihre Hefte. Fast alle sind in Deutschland geboren, fallen nur auf durch ihre Kopfbedeckungen: Schon Mädchen wickeln sich Tücher um den Kopf, Jungen tragen ihr ungeschnittenes Haar in einem Dutt. Die kunstvoll gewickelten Turbane sind wohl das auffälligste Merkmal der Sikhs. Und die Namen: Sikh-Frauen haben den Nachnamen Kaur – Prinzessin. Männer den Namen Singh – Löwe. Als Ausdruck der Zusammengehörigkeit.

„Wir glauben, die Schöpfung ist vollkommen“, sagt Jaspreet Kaur, „daher verändern wir nichts an unserem Körper.“ Ein Sikh nimmt keine Rauschmittel, schneidet die Haare nie. Jeden Morgen werden sie gewaschen und gekämmt, damit die brüchigen Stellen abfallen. Wer sich nicht daran hält, gilt nicht als Sikh. Nur die Nägel dürfen geschnitten werden, gelten als tot.

Es seien wohl die äußeren Merkmale, die das Leben in Deutschland immer wieder erschweren, sagt Umeet Singh. „Vor allem Jungen werden oft gehänselt wegen der Patka, ihrer Kopfbedeckung. Kinder können grausam sein“, sagt Umeet Singh. Er selbst kam als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Deutschland, damals nach dem Massaker von Amritsar. In der Schule wurde er oft „Schlumpfkopf“ genannt. Trotzdem bekannte er sich immer fest zu seiner Religion. Auch später, bei der Arbeitssuche sei er immer wieder mit Ablehnung konfrontiert, in eine Schublade gesteckt worden. Und heute, im Job? Höre er oft von Geschäftspartnern, wie misstrauisch sie beim Kennenlernen gewesen seien – und wie überrascht, als sich die Vorurteile nicht bestätigten.

„Wer uns kennt, verliert auch die Vorurteile“

Auf dem Boden des Tempels sitzen die Gläubigen in langen Reihen zum gemeinsamen Mahl, dem traditionellen Langar. Ein paar Männer verteilen Essen aus großen Blechbottichen, schenken Tee aus. Es gibt Dal und Naan-Brot mit Joghurt. „Jeder bekommt in unserem Tempel zu jeder Zeit Essen – das symbolisiert unser Verständnis von Gleichheit“, sagt Umeet Singh. „Hier sitzen alle nebeneinander, ob muslimisch oder christlich, arm oder reich.“

Die Schwierigkeiten, mit denen Sikhs in der Gesellschaft konfrontiert werden, hinterlassen Spuren. „Viele Jugendliche wenden sich von der Religion ab, das ist kein Geheimnis“, sagt Singh. Manche junge Sikhs im Tempel tragen Turban, manche haben ihre Haare geschnitten – ihres Berufs wegen oder weil sie nicht auffallen wollen in der Gesellschaft da draußen. Es seien nur die wenigsten, die so einen Mittelweg gehen, sagt Singh. Vielleicht werde das nun, nach den Anschlägen von Essen, etwas leichter, vielleicht gebe es weniger Verwechslungen. „Denn wer uns kennt, verliert auch die Vorurteile.“