Das Buch von Camille Kouchner über mögliche sexuelle Übergriffe ihres Stiefvaters gegenüber ihrem Bruder wirbelt in Frankreich sehr viel Staub auf. Foto: dpa/Thomas Samson

Tausende Menschen offenbaren ihr Leiden mit sexualisierter Gewalt in der Familie. Die Nationalversammlung stimmte nun für eine Verschärfung der Gesetze.

Paris - Die Opfer haben geschwiegen, manche aus Scham, andere aus Hilflosigkeit. Bei vielen dauerte diese quälende Sprachlosigkeit einige Jahrzehnte. Jetzt aber scheint ein Damm gebrochen. Nach den Enthüllungen der Juristin Camille Kouchner über mutmaßlichen sexuellen Missbrauch ist in Frankreich eine Debatte über sexualisierte Gewalt in Familien entbrannt. Zehntausende Menschen teilen in diesen Tagen unter dem Hashtag #metooinceste ihre Erfahrungen mit Übergriffen innerhalb der Familie. Der Hashtag ist angelehnt an das Schlagwort MeToo, das seit einigen Jahren stellvertretend für den Kampf gegen Alltagssexismus, Missbrauch und Nötigung weltweit steht.

Schwere Vorwürfe gegen den Stiefvater

Camille Kouchner ist nicht irgendwer in Frankreich. Sie gehört zu einer bekannten Pariser Intellektuellen-Familie und ist Tochter des früheren französischen Außenministers und Mitgründers der Nothilfeorganisation „Ärzte ohne Grenzen“, Bernard Kouchner (81). In ihrem Buch „La Familia grande“ („Die große Familie“) wirft sie ihrem Stiefvater Olivier Duhamel vor, vor über drei Jahrzehnten gegenüber ihrem damals minderjährigen Zwillingsbruder sexuell übergriffig geworden zu sein. Der angesehene Politologe und Jurist Duhamel ist zwar nicht direkt auf die Vorwürfe eingegangen, hat aber nach deren Bekanntwerden alle seine Funktionen niedergelegt.

In der Pariser Intellektuellen-Elite sollen die Missbrauchsvorwürfe allerdings schon lange bekannt gewesen sein. Und: Über Jahre dezent ignoriert worden sein. Was folgte, waren weitere Rücktritte – in diesen Tagen nahm der Direktor der Elite-Uni Sciences Po, Frédéric Mion, seinen Hut, nachdem er die Affäre zunächst einfach aussitzen wollte. Doch am Ende war der Druck wohl zu groß, unter den Studierenden regte sich massiver Protest. Mion hatte zuvor eingeräumt, dass er schon vor Jahren von Vorwürfen gegen Duhamel erfahren hatte.

Nur die Spitze des Eisberges

Inzwischen zeigt sich aber, dass bisher nur die Spitze eines Eisberges zu sehen ist und sich das Problem des Missbrauchs innerhalb der Familien nicht auf einen kleinen und elitäreren Zirkel beschränkt. Immer mehr Menschen melden sich unter dem Hashtag #metooinceste zu Wort. „Ich war 13, er war 26. Er war mein Onkel. Offizier in der Marine“, schreibt eine Nutzerin bei Twitter. „Er war mein Großvater, ich war 11, 12, 13 Jahre alt und hatte keine Ahnung, was das Wort Zustimmung bedeutet“, erklärt eine andere. Hilfsorganisationen schätzen, dass mindestens jedes zehnte Kind in Frankreich Opfer von sexualisiertem Missbrauch in der Familie geworden ist. Es sei ein Problem aller Schichten der Gesellschaft, unabhängig von der Bildung oder dem Einkommen.

Im Fokus steht in der Debatte inzwischen auch eine geltende gesetzliche Regelung, die es möglich macht, dass Volljährige nach Sex mit Minderjährigen milde bestraft oder gar freigesprochen werden. Das ist möglich, weil das Gesetz in Frankreich bei sexuellen Handlungen mit unter 15-Jährigen eine Zustimmung des Kindes als entlastenden Faktor berücksichtigt. Es obliegt den Gerichten zu beurteilen, ob der oder die Minderjährige in der Lage gewesen sei, in die sexuelle Beziehung einzuwilligen.

Kinder sollen besser geschützt werden

Das will Frankreichs Regierung nun ändern und ein sogenanntes Schutzalter einführen. Wer in Deutschland zum Beispiel einvernehmlichen Sex haben möchte, muss mindestens 14 Jahre alt sein. „Ein Akt der sexuellen Penetration, der von einem Erwachsenen an einem Minderjährigen unter 15 Jahren durchgeführt wird, wird als eine Vergewaltigung gewertet werden“, stellte Frankreichs Justizminister Eric Dupond-Moretti jüngst klar. Es gebe eine Wende in der Gesellschaft, das Gesetz müsse dahingehend geändert werden. Die Pariser Nationalversammlung billigte am Donnerstag in erster Lesung ein Gesetz, wonach das Schutzalter 15 Jahre betragen und bei Fällen von Inzest sogar bei 18 Jahren liegen soll. Auf die „sexuelle Penetration“ sowie Oral-Sex bis zu diesem Schutzalter sollen demnach künftig 20 Jahre Haft stehen, bei Inzest zwischen Blutsverwandten sogar 30 Jahre.

Zuvor hatte Präsident Emmanuel Macron Druck gemacht. Auf Twitter veröffentlichte er ein Video und erklärte darin, dass die Opfer sexueller Gewalt „nie wieder allein gelassen“ würden. „Niemand kann diese Zeugenaussagen mehr ignorieren“, unterstrich Macron. Sie müssten auch „Jahre, Jahrzehnte später“ gesammelt und Verbrecher müssten für ihre Taten bestraft werden. Damit nicht genug: die Verjährungsfrist für Sexualverbrechen an Minderjährigen war 2018 in Frankreich bereits auf 30 Jahre verlängert worden, doch es gibt Forderungen, die Verjährung komplett abzuschaffen.