Philipps ist eine von vielleicht ein paar Dutzend Sexualbegleiterinnen in Deutschland. Ihr kognitiv leicht eingeschränkter Klient Siggi freut sich über die Zärtlichkeit. Foto: Andreas Reiner

Wir leben in einer Welt, in der nackte Haut, perfekte Körper und Sex ständig präsent sind. Sexualität von Menschen mit Behinderung wird dabei ausgeblendet. Jessica Philipps ermöglicht sie gegen Geld.

Ein Dienstagabend, draußen scheint die Sonne, T-Shirt-Wetter. Jessica Philipps öffnet die Tür in einem Wohnhaus in Leinfelden, weiße Wände, spitzes Dach, nichts unterscheidet es groß von den anderen Gebäuden in der Straße. Sie begrüßt Siggi, einen ihrer Klienten, der hier nur mit seinem Vornamen genannt werden soll. Er wurde vom Fahrdienst gebracht. Siggi zieht die Schuhe aus, steigt über die Treppe nach unten und taucht ein in das orange Licht, das die Vorhänge in Philipps’ Massageraum werfen. Hier wird Siggi an diesem Abend etwas Intimität erfahren. 95 Euro kostet ihn die Stunde – das ist viel Geld für jemanden, der in seiner Werkstätte für nicht einmal zwei Euro Stundenlohn Tiere versorgt.

 

Philipps, 44, ist aktive Sexualbegleiterin. Manche sagen auch Surrogatpartnerin, denn sie durchläuft mit ihren Kunden alle Stationen einer Partnerschaft: miteinander reden, Vertrauen aufbauen, aufrichtige Nähe erleben, kuscheln und noch ein bisschen mehr.

Wie ein frisch verliebtes Paar

Siggi setzt sich auf die Couch, Philipps kommt zu ihm, sie nimmt seine Hand, streichelt seinen Oberschenkel, er legt seine Hand auf ihr Bein, sie lächeln sich an, lehnen ihre Köpfe aneinander. Wie ein frisch verliebtes Paar, das es nicht erträgt, die Wärme des anderen Körpers nicht jederzeit an sich zu spüren. Aus einer Box zieht Jessica Philipps Zettel, auf die Siggi seine Wünsche geschrieben hat. Auf manchen stehen Sätze, in denen das Wort Penis vorkommt.

Siggi, Anfang 60, hat eine Beeinträchtigung, wie die meisten Menschen, die Philipps auf dem Weg zu mehr Sexualität begleitet. Er ist leicht kognitiv eingeschränkt, aber es sind auch Menschen mit Autismus und Trisomie 21, mit Demenz und mit Multipler Sklerose unter Jessica Philipps’ Klienten. Manche sind inkontinent, einige Klienten müssen deshalb vor den Terminen abführen. Philipps muss sich trotzdem darauf einstellen, bei ihren Sessions angepinkelt und angesabbert zu werden.

Philipps ist in der Nähe der Karlshöhe in Ludwigsburg aufgewachsen, wo auch viele Menschen mit Behinderung wohnen, aus der Kirchengemeinde ist sie den Umgang mit ihnen gewohnt. Nach dem Abitur macht sie ein Freiwilliges Soziales Jahr im BHZ Stuttgart, arbeitet auch mit mehrfach schwerbehinderten Menschen: „Ich habe diese Menschen immer in den Arm nehmen können.“ Einige Jahre später gerät sie durch eine Freundin in ein Tantra-Seminar. „So bin ich bei der Körperarbeit gelandet“, sagt das „Seelenkind“, wie sich Philipps beruflich nennt. Menschen mit Behinderung habe sie nie ausgeschlossen, aber auch nicht gezielt angesprochen. Vor etwas mehr als zehn Jahren landen einfach diese Anfragen bei ihr.

Sie macht Dinge, die mehrere gesellschaftliche Tabus vereinen

Redet man mit Philipps, landet man schnell bei Erklärungen, warum sie das Vulven-Memory direkt neben der Couch in den Sessions mit ihren Klienten einsetzt (Vielfalt des weiblichen Körpers erklären), welche Körperteile es für Sexualität braucht (manchmal reicht ein Ohrläppchen), und wie weit sie geht (Oral- und Geschlechtsverkehr ist tabu). Zwischen dem, was sie sagt und was sie denkt, liegen nur wenige Filter. Manche fänden sie deswegen anfangs etwas verrückt, sagt sie. Sie geht offen mit ihrem Beruf um, Freunde und Familie wissen Bescheid, ihr Ehemann unterstützt sie. „Alle verstehen, dass dieser Job einfach zu mir passt.“ Und was alle anderen darüber denken, scheint ihr relativ egal zu sein. Wahrscheinlich muss man so sein, wenn man in seinem Massageraum Dinge macht, die gleich mehrere gesellschaftliche Tabus vereinen.

Siggis drahtiger Körper lehnt noch auf der Couch, gerade noch musste Philipps die Sauerstoffsättigung seines Blutes messen, vor Kurzem hatte er eine schwere Lungenentzündung, aber er lächelt. Worauf er sich gefreut hat? „Auf die Zärtlichkeit“, sagt Siggi und guckt Jessica Philipps etwas fragend an. Was er an ihr mag? „Eigentlich alles.“ Kurze Nachdenkpause: „Die Brüste“, sagt er und legt seine Hand auf ihren Oberkörper. Siggi geht mit gesprochenen Worten um wie der typische Schwabe mit Geld.

Schriftlich formulierte Wünsche

Wenn er seine Zuneigung ausdrücken oder Wünsche äußern will, schreibt er Jessica Philipps Briefe. Sie kramt einen aus einer kleinen Schachtel hervor: „Lieber Schatz! Darf ich dich mal ausziehen, Schatz? Weil ich noch keine Frau ausgezogen habe, ich möchte das mal wissen als ein Mann, eine Frau auszuziehen, oder wie es ist, wenn eine Frau einen Mann auszieht. Ich habe dich sehr lieb, Liebling, oder Schatz.“ Das sind die eher unschuldigen Wünsche, es gibt auch viele, in denen es expliziter wird.

Siggi lebt auf einem Bauernhof, der eine Einrichtung für Ältere und Menschen mit Behinderung ist. Er arbeitet gerne mit Tieren, trinkt gerne mal ein Bier, schaut gerne fern. Von den Filmen spätabends holt er sich die Anregungen für seine Wunschzettel. Eine Freundin gibt es nicht. Er hat wahrscheinlich nie das Gefühl erfahren, geliebt zu werden. Und hatte selbst nie jemanden, für den er durchs Feuer gegangen wäre. „Man merkt das an der Art, wie jemand streichelt“, sagt Philipps. Diese Leute berühren einen eher mechanisch, Haut rubbelt über Haut, wie wenn man einer Kuh tapsig übers Fell fährt. „Sexualität ist eine Form der Sprache“, sagt Philipps. Siggi musste sie, als er vor fünf Jahren das erste Mal zu Philips kam, erst von ihr lernen.

Der wesentliche Unterschied zur Prostitution

Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, wie alle anderen Menschen auch. Da wird, neben UN-Behindertenrechtskonvention und Bundesteilhabegesetz, vor allem mit dem Grundgesetz argumentiert. Artikel 2, Absatz 1: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.“ Artikel 3, Absatz 3: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Wenn Menschen mit Behinderung Sexualität leben wollen, dürfen sie in diesem Bedürfnis nicht eingeschränkt werden.

Berührungen, Nähe, Grenzen respektieren – bei ihr würden Klienten all die Basics mitbekommen, „die wir normalerweise ab 14 Jahren lernen“, sagt Philipps. Das sei auch der wesentliche Unterschied zur Prostitution: kein Fokus auf die Genitalien, keine schnelle Befriedigung, sondern das Erlernen von Sinnlichkeit, von Gegenseitigkeit. Eine Sitzung geht meist 75 Minuten, und es braucht oft viele davon, bis es sexuell wird.

„Es wird beim ersten Termin nicht gleich angefasst“, sagt Philipps. „Ich muss erst ein Herzensvertrauen schaffen.“ Denn auch wenn ihre Klienten Intimität suchten, könnten auch sehr schnell Grenzen überschritten werden. Menschen mit geistiger Beeinträchtigung, können ihre Wünsche oft nicht präzise ausdrücken. Manche wollen ständig berührt werden, andere brauchen Zeit, um Vertrauen aufzubauen. Bei den einen gehe es darum, ein Grundbedürfnis nach Sexualität zu leben. Bei anderen darum, überhaupt erst wieder Berührungen zuzulassen. Hier herauszufinden, was gewünscht ist und was nicht, ist eine Gratwanderung. „Der wichtigste Teil meiner Arbeit ist Intuition“, sagt Philipps. Eine Ausbildung hat sie für das, was sie tut, nicht. Es gibt auch kaum jemanden, der für so etwas ausbildet. Sie sagt: „Ich bin eher auf der Therapieseite. Aber schon mit einer sexuellen Komponente.“

Sexarbeiterin oder Therapeutin – oder beides?

Therapie und Sexualität, das ist für viele ein No-Go. Psychotherapeutinnen und -therapeuten dürfen mit Kunden ohnehin nicht sexuell aktiv werden, das ist gesetzlich verboten. Was Philipps macht, ist erlaubt, aber umstritten. Die fehlende Abgrenzung zwischen den Sphären Sexualität und Therapie sehen viele als Problem. Für Philipps ist genau das eine Lücke, die sie schließen will: Therapeutinnen dürfen keine echte Nähe zulassen, Sexarbeiterinnen sind in der Regel nicht im Umgang mit Menschen mit Behinderung geschult. Philipps liegt irgendwo dazwischen. Sie trifft damit offenbar einen Nerv.

Jessica Philipps in ihrer Praxis Foto: Florian Gann

Die Nachfrage sei so groß, dass sie viele Anfragen ablehnen müsse, sagt Philipps. Sie macht etwa zu einer Hälfte normale Massagen, Ayurveda, Hotstone, Tantra, diese Sachen. Die andere Hälfte der Zeit gehört der Sexualbegleitung. Das eine bedeutet: Termin ausmachen, massieren, fertig. Das andere: mit Ärztinnen und Pflegern sprechen, sich mit den Einrichtungen abstimmen, Protokolle ausfüllen, viele Dinge, die nichts mit dem Job an sich zu tun haben.

95 Euro für eine Stunde Freude

Philipps wünscht sich, dass mehr Leute ihren Job machen würden. Es gibt vielleicht ein paar Dutzend in Deutschland, offizielle Zahlen existieren nicht. Immer wenn Philipps Interessierte einweiht, winken diese meist schnell wieder ab.

Nach etwa 20 Minuten auf der Couch haben Jessica Philipps und Siggi die Wunschzettel für den Abend durchgenommen. Irgendwann wird klar, dass der Reporter hier nichts mehr zu suchen hat, wie wenn man zu Besuch bei einem Paar ist, dass auch mal wieder unter sich sein möchte. Sie kommen mit zum Ausgang, stehen eng beieinander, sie streichelt ihm den Rücken. Dann verschwinden sie über die Holztreppe nach unten und tauchen ein in das orange Licht des Massageraums. Für 95 Euro die Stunde wird Siggi die Zärtlichkeit bekommen, auf die er sich gefreut hat.