Jack Reacher (Alan Ritchson, li.) und der Polizist Oscar Finlay (Malcolm Goodwin) agieren nicht immer auf Augenhöhe miteinander. Foto: Amazon/PR

Wer Geschichten über wuchtige Typen mag, die mit allen Bösewichten fertig werden, kann sich auf ein Fest freuen: auf die Serie „Reacher“ bei Amazon Prime.

Stuttgart - Er reist ohne Koffer, ohne Rucksack, ohne ein Stück Wechselwäsche und anfangs auch ohne Waffe durch die USA: Man könnte diesen Jack Reacher also einen Landstreicher nennen. Selbst auf Schikane abonnierte Hinterwäldler-Cops aus dem Süden überlegen sich aber zweimal, das zu tun. Der Titelheld der neuen Amazon-Prime-Streamingserie „Reacher“ sieht aus wie der Muskeltraining-Lehrer von Superman, und wer es schafft, diesen Mann aus seiner einsilbigen Ruhe zu wuchtiger Action aufzustacheln, weiß danach, wie sich das Eiweiß im Rührmix fühlt.

Reacher hat seine Muskeln nicht zum Posen am Strand, er ist ein Ex-Elitekämpfer, ein Sonderermittler der Militärpolizei in seltsam hobo-haftem Vorruhestand. Obendrein ist er mit der Beobachtungsgabe und den Kombinationsfähigkeiten eines Sherlock Holmes gesegnet. Das alles muss die Amazon-Serie nicht jedem frisch erklären: Jack Reacher ist der Held einer 1997 gestarteten, mittlerweile 26 Romane und etliche Kurzgeschichten umfassenden Krimireihe mit einer Gesamtauflage von über 100 Millionen Exemplaren.

Unbesiegbar – mit Augenzwinkern

In der ersten von acht Folgen der ersten Staffel von „Reacher“ schlendert der weiße Hüne Reacher ins Südstaatenstädtchen Margrave in Georgia, weil er hofft, noch ein paar Informationen über den 1934 verstorbenen schwarzen Bluessänger und Ausnahmegitarristen Blind Blake zu finden. Die wenigsten Leser und Zuschauer dürften von Blind Blake je gehört haben (den gab es wirklich, Margrave dagegen ist fiktiv). Reachers ausgefallener Musikgeschmack ist einer jener überraschenden Schlenker, mit denen der Krimiautor Lee Child und nun der Showrunner Nick Santora der eigentlich vom Reißbrett stammenden Selbstjustizfantasie Reacher Charme und Menschlichkeit geben.

Dabei bemüht sich „Reacher“ aber kein bisschen, als komplexe Serie herüberzukommen, im Gegenteil. Mit einer solchen Lust an den simplen Unbesiegbar-Fantasien der frühen Pulp Fiction wird hier gearbeitet, dass daraus immer wieder Selbstironie entsteht. Kaum ist Reacher in Margrave, erfährt er, dass sein Bruder ermordet wurde. Dieses Motiv treibt zahllose Prügelfilme ohne jede Ambition mit Haudrauf-Darstellern wie Jean-Claude van Damme und Dolph Lundgren an. Als Zuschauer mit der Erwartung an ein Niveau höher als die Teppichkante könnte man also fast schon abschalten. Aber die augenzwinkernde Dreistheit des Ganzen hält einen fest – vor allem dieses altmodische Selbstbewusstsein von Reacher, der sich sicher ist, jeden Kampf bestehen, jeden Gegner besiegen zu können.

Märchen für Erwachsene

Und Gegner gibt es hier reichlich. Ganz Margrave hängt fest in den finsteren Machenschaften eines Ortsbonzen, der die Polizei kontrolliert, aber auch andere Todesschwadronen in Marsch setzen kann. Bald häufen sich die Leichen, und man bestaunt einen von vielen Widersprüchen. Einerseits wirkt das Ganze wie der Werbeclip aus dem Kinderprogramm für eine neue Action-Spielfigur aus Plastik, andererseits dank der bestialischen Brutalität der Bösewichte und der eiskalt mörderischen Gegenoperationen von Reacher wie ein dystopischer Mafiakrimi, der nach ein, zwei Bildern das Ab-18-Siegel sicher haben müsste.

Da bekommt einer noch mal die Welt in den Griff, da macht einer klar, wo seine Grenzen sind, und setzt seine Werte energisch durch: Klar, der Brite Lee Child hat sehr gut begriffen, wonach sich ein von Gewalt und Gesellschaftswandel verunsichertes Amerika sehnt. Aber er schreibt eben nicht nur für die USA. Und die Serienmacher haben zum Glück begriffen – aber Child war ja auch mitwirkender Produzent –, dass es hier nicht um die schwitzige Verherrlichung einer halb faschistoiden Aufräumwut geht. Die „Reacher“-Romane und nun die Serie sind Märchen, die um ihre eigene Verblasenheit wissen. Man soll sich hier einfach mal für kurze Zeit die Verzweiflung über den Zustand der Welt wegschneuzen können.

Tom Cruise war gestern

Das Kino hat schon zweimal probiert, das Phänomen Jack Reacher einzufangen – mit Tom Cruise in der Hauptrolle. Das hat etliche Fans der Bücher fassungslos gemacht, denn die Romanfigur Reacher ist ungefähr doppelt so groß wie Tom Cruise und zehnmal so eindrucksvoll. Dass er so imposant wirkt, ist auch ein prägendes Element der Geschichten. Fairerweise sollte man sagen: als Action-Kino sind die Cruise-Filme zumindest diskutabel,als Reacher-Adaptionen allerdings nicht.

Womit wir beim Kern der neuen Serie wären: bei Reacher-Darsteller Alan Ritchson. Der 39-Jährige ist alles andere als ein Newcomer, er war zum Beispiel in der Superheldenserie „Titans“ zu sehen. Aber für „Reacher“ wurde er sichtlich geboren. Wenn er ins Bild tritt, wird sofort klar, warum ein Gegenüber spontan fragt, was in seiner Heimat denn im Trinkwasser sei. Ritchson wirkt weniger wie ein großer Mensch, eher wie ein handlicher Riese.

Reachers besondere Aura

Wer glaubt, das sei einzig endlosen Nahkämpfen mit Gewichthebemaschinen und ausgeklügelter Kraftnahrung mit Extrazutaten für glänzendes Fell zu verdanken, der tut Ritchson großes Unrecht. Die Reacher-Aura resultiert auch aus den diversen Blicken dieses Burschen, die von leicht genervtem Mitleid (Warum tut jemand nicht gleich, was er will?) über unaufgeregte Kalkulation (Welchen Knochen soll er zuerst brechen?) bis zu sengender Vorfreude (Er wird gleich einen Fiesling final vom Spielbrett nehmen) reichen.

Die Reacher-Romanreihe amüsiert auch Menschen, die mit Selbstjustizgeschichten sonst wenig anfangen können. Kollegen und Kolleginnen bewundern Lee Child nicht nur des puren Markterfolgs wegen, auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ganz anderes als Genreliteratur schreiben, haben sich schon zu Reacher bekannt. Der Serie darf man einen ähnlichen Erfolg vorhersagen. Nirgends sonst kann man sich für kurze Zeit noch mal wie ein Fünfjähriger fühlen, der ganz sicher ist, dass die Welt Probleme haben mag, dass Papa oder Mama die aber am Ende immer richten können.