Kleine Rente: Die Zahl der Menschen, die sich noch etwas hinzuverdienen, steigt.
Stuttgart - Die Zahl der Menschen, die sich zu ihrer Rente noch etwas hinzuverdienen, steigt. Ein Zeichen von Altersarmut sei das nicht, sagt das Arbeitsministerium. "Diejenigen, die das Geld brauchen, arbeiten schwarz", sagt ein Handwerksmeister. Hannelore Wiesner (Name geändert) windet sich auf dem Stuhl. Sie knetet ihre Finger auf der dunklen Tischplatte, schnaubt und schüttelt den Kopf. "Mensch," sagt sie dann. Dass sie immer öfter etwas vergisst, erinnert sie an ihr Alter. Wiesner kann sich nicht mehr an das Lied erinnern, zu dem sie früher so gern getanzt hat. "Rock'n'Roll", sagt sie. Sie spricht Bayrisch. Stadtmenschen sagen oft "Wie bitte?" zu ihr. Die Leute sagen auch manchmal, dass sie noch jung aussieht, "drahtig und schlank." Die sehen ja nicht in sie rein. Sie merken nicht, dass an manchen Tagen Worte, Zeilen, ganze Texte dem Nichts im Kopf weichen. Selbst das Arbeiten strengt Hannelore Wiesner jetzt manchmal an. Aber arbeiten, ja, das muss sie auch noch mit 74.
Hannelore Wiesner ist nicht die einzige, die arbeitet, obwohl ihr der Staat jeden Monat die Rente überweist (300 Euro) dazu kommt noch die Witwenrente (um die 500 Euro). Hannelore Wiesner ist Haushaltshilfe. Die Statistiker des Bundesministeriums für Arbeit haben gesagt, dass im Jahr 2000 rund 3 Prozent der Rentner arbeiten gegangen sind - und heute knapp 4 Prozent. Wiesner macht sich keine Gedanken über Statistiken. Menschen wie sie tauchen in der Statistik der Politiker nicht auf. "Die meisten Rentner, die arbeiten, weil sie das Geld brauchen, arbeiten schwarz", sagt Manfred Schneider, Malermeister aus Waldburg. Hannelore Wiesner weiß nicht, ob sie den Leuten vom Finanzamt etwas zahlen müsste, weil sie arbeitet. Zur Sicherheit erzählt sie es ihnen nicht.
Immer mehr Altersarmut
Schneider weiß, dass sie es müsste. Er verliert die Fassung wegen Menschen wie ihr. "Schwarzarbeiter machen die Preise kaputt." Schneider ist in seinem eigenen Handwerksbetrieb für Reparaturen und Renovierungen der Jüngste, ruiniert den Altersdurchschnitt der Firma. Der liegt bei 64 Jahren. Schneider ist 52. Nicht jeder Handwerker darf bei Senior Experts Schneider arbeiten. Nur Bewerbungen von Rentnern, Arbeitslosen über 50 und Menschen in Altersteilzeit haben bei ihm einen Chance. Die erste Hürde ist der Anrufbeantworter. Menschen, die nicht in der Lage sind, einen geraden Satz zu produzieren, seien auch keine guten Mitarbeiter, sagt Schneider. Rund 80 Prozent der Kundschaft sind alte Menschen - meist alleinstehende Frauen. Glaubt man Alexandra Kournioti, Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz (nak), darf man den Spaßfaktor der kommenden Tage nicht überbewerten. "Der Paritätischer Gesamtverband schätzt, dass im Jahr 2030 etwa zehn Prozent der Rentner in Deutschland von Altersarmut betroffen sein werden", sagt sie. Im Jahr 2030 würden zirka 22,3 Millionen von etwa 77 Millionen Menschen über 65 Jahre alt sein (heute gibt es bundesweit 17 Millionen über 65-Jährige). "Im selben Jahr werden auf 100 Erwerbstätige schätzungsweise 61 Rentner kommen. Ebenfalls im Jahr 2030 soll das Rentenniveau auf zirka 40 Prozent sinken."
"Altersarmut ist kein akutes oder aktuelles Problem", sagt eine Sprecherin des Bundesministeriums für Arbeit. Dass immer mehr Rentner sich noch etwas hinzuverdienen, läge daran, dass sie länger fit sind. "Sie wollen nicht mit 60 oder 65 aufs Altenteil, sondern eingebunden sein und sich einbringen." Die Wahrnehmung von Arbeit als Last und möglichst früh zu beendendes Schicksal rücke in den Hintergrund. "Nur wer 45 Jahre lang mehr als 9,47 Euro in der Stunde verdient hat, kommt heute überhaupt auf das Niveau der Grundsicherung", sagt Matthias Birkwald, Rentenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Die Linke.
Manfred Schneider hat zwei Jahre lang Versicherungen verkauft - daher kennt er diese Zahlen. Das fühlt sich gut an. Er hat seither keine Angst mehr davor, dass seine Rente im Alter nicht reichen könnte. Er ist sich jetzt sicher. Also hat er sich darauf eingestellt, dass er so lange arbeiten wird bis er stirbt. Mit seinem Betrieb hat er eine Einrichtung geschaffen, die es anderen ermöglicht, genau so unabhängig zu bleiben wie er, "wir müssen schauen, wie wir uns selbst versorgen". Schneider beschäftigt sieben Rentner. Erwin Bieger ist einer davon. Der 63-Jährige befindet sich in Altersteilzeit. In der sogenannten Freistellungsphase muss er gar nicht mehr zu seinem alten Arbeitgeber gehen. Bieger liebt Gespräche - über Amerika, Stuttgart 21, Rentenkürzungen oder Loriot. Er macht viele Witze, lacht aber auch, wenn niemand einen Scherz gemacht hat. Wenn er ans Geld denkt, hört er auf zu lachen. Er bestimmt nicht selbst, wie viel er noch dazu verdient. Kommt er auf über 400 Euro im Monat wird ihm ein Teil seiner Rente abgezogen. Er fühlt sich wie ein Kind deswegen, "entmündigt und entrechtet." Insgesamt kann Bieger bisher 35 Stunden im Monat arbeiten. Wenn er mit einem Auftrag nicht fertig wird, muss Schneider ihn vollenden. "Noch ist es so, dass ausgerechnet die Jüngeren, die unter 65 Jahren, die noch bei Kräften sind, nicht voll arbeiten dürfen", sagt sein Kollege Bernd Wegers. Er ist 69 Jahre, darf schaffen, soviel er will. Die meiste Zeit in seinem Leben hat er als Architekt gearbeitet. Einmal hat jemand gefragt, ob das ein Problem fürs Ego sei: Früher Architekt heute Handwerker.
"Meine Senioren sind ausgebucht"
Wegers hat geantwortet, dass er auch mal als Entwicklungshelfer in Afrika und als Heilpädagoge in einem Heim gearbeitet hat. Er weiß, wie es sich anfühlt, Behinderten die Windeln wechseln, weiß, wie es riecht. Das Gefühl, sich für etwas zu schade zu sein, ist ihm irgendwo zwischen Afrika und Behindertenheim verloren gegangen. Seine Rente liegt bei unter 1000 Euro. Das Geld ist die eine Sache, für die er arbeitet. Der Wunsch, zu gestalten, eine andere. Er möchte Dinge schaffen, die anderen nutzen. Der Bauleiter von früher repariert heute Hütten, Zäune, Unterstände für Autos.
Aber nicht für jeden. Bei den Kunden ist Schneider er so wählerisch wie bei den Mitarbeitern. Manchmal rufen Leute bei ihm an und fragen, was ein Rentner kostet. Dann beendet er das Gespräch. Das Geschäft läuft gut: "Meine Senioren und ich sind ausgebucht bis Weihnachten." Die größte Konkurrenz sind die Schwarzarbeiter. Schneider kann zwar günstiger anbieten, weil Rentenversicherung und Arbeitslosengeld wegfallen, aber mit den Preisen der Schwarzarbeiterkann er nicht mithalten. Seine Senioren verdienen um die zwölf Euro. Ein Schwarzarbeiter nimmt 25 Euro. "So was gibt es bei uns nicht", sagt Manfred Steinwinter (67), Technischer Leiter bei der Steinwinter Fahrzeugbau GmbH. Auch er stellt nur Rentner ein. die Jungen lohnen sich nicht. Die verlangen Geld, das ihrer Leistung nicht entspricht, sagt er. "Unter 15 Euro arbeiten sie nicht". Dabei sollte man nicht des Geldes wegen arbeiten, sondern weil einem die Arbeit Freude bereitet. Die Rentner sind mit neun Euro zufrieden. "Sie erinnern sich noch an die Zeit, in der man für drei Euro gearbeitet hat." Sie wissen, was Pünktlichkeit ist und machen kaum krank. Wenn Steinwinter irgendwas sieht, dass es gar nicht mehr geht, muss er den Menschen kündigen - damit sie sich nicht zu Tode arbeiten.
Hannelore Wiesner denkt jetzt öfter an den Tod. Angst macht ihr der Gedanke nicht. Nur vorm Vergessen fürchtet sie sich. Es soll Abend werden, bis sie sich wieder erinnert an das Lied zu dem sie Rock'n Roll getanzt hat. Halb spricht sie das Lied, halb singt sie: "Das alte Haus von Rocky Docky hat vieles schon erlebt, kein Wunder, dass es zittert, kein Wunder, dass es bebt." Als ginge es dabei nicht um ein Haus.