Volker Quack und Birgit Hardt mit ihrem Sohn Dario. Der Achtjährige leidet an Morbus Sandhoff. Foto: epd

Es gibt rund 8000 Seltene Erkrankungen – die meisten sind weitgehend unerforscht und daher schwer zu diagnostizieren. Zwei betroffene Familien berichten.

Würzburg - (epd). Kurz vor den Feiertagen war es für Birgit Hardt wieder schlimm. „Wir hatten eigentlich vor, Weihnachten daheim zu bleiben“, schreibt sie auf ihrer Facebook-Seite. Doch je näher diese Tage rückten, desto größer wurde ihr Wunsch, allem zu entfliehen: „Weil wir uns Weihnachten mit Kind so anders vorgestellt haben.“ Zum Beispiel mit einem Weihnachtslieder singenden Kind, mit erwartungsvoll glänzenden Augen, mit gemeinsamen Erinnerungen. Das alles gibt es in der Familie Hardt/Quack nicht, denn für ihren Sohn Dario gibt es kein Gestern, kein Morgen – er lebt komplett im Hier und Jetzt. Sprechen und Laufen hat er wieder verlernt. Dario hat Morbus Sandhoff, eine Seltene Erkrankung.

Birgit Hardt hatte bald nach Darios Geburt das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Dario lernte langsamer Krabbeln und Laufen als andere Kinder in seinem Alter, lange Zeit sprach er nicht. „Das wird schon“, „Jedes Kind hat sein eigenes Tempo“ oder „Mach dich nicht verrückt“ hieß es dann von Ärzten, Freunden und der Familie. Sie war sich am Schluss selbst nicht mehr sicher, ob sie sich vielleicht nur etwas einbildet. Bis Dario mit dreieinhalb Jahren immer häufiger stürzt, die Familie schließlich in einer Spezialklinik landet und ihr dort gesagt wird: „Ihr Kind wird nie mehr laufen, wird blind, taub und sterben.“ Doch es kommt anders. Dario macht Fortschritte.

Anfang Dezember 2011 verlassen die Eltern mit ihrem Sohn die Klinik. Am zweiten Tag zu Hause hat Dario keine epileptischen Anfälle mehr, wenige Tage vor Weihnachten beginnt er wieder zu laufen. Bei aller Freude wissen Birgit Hardt und Folker Quack, dass Dario schwer krank ist. Ein halbes Jahr später haben sie Klarheit. Juveniles Sandhoff, eine seltene Stoffwechselerkrankung, progredient, irgendwann tödlich. „So schlimm die Diagnose war, sie war auch eine Erlösung“, sagt Hardt. „Wir wussten endlich, was es ist.“

Mit zweieinhalb hört Leander auf zu sprechen

Für Michaela Fritz war die Diagnose bei ihrem Sohn Leander zuerst ein tiefes schwarzes Loch. Die Krankengeschichte des Jungen beginnt mit gut einem Jahr, als Leander plötzlich einen Wasserkopf entwickelt und notoperiert werden muss. Später tat sich Leander mit Sprechen und Hören schwer – bis im zweiten Lebensjahr eine mittel- bis hochgradige Hörschädigung festgestellt wurde. Hinzu kommen weitere Auffälligkeiten: Er ist hyperaktiv, schläft kaum, hat einen Blähbauch. Die Ärzte beruhigten die Eltern: „Alles halb so wild!“ Bis Leander mit zweieinhalb plötzlich zu sprechen aufhört.

Eine endgültige Diagnose erhalten die Eheleute Fritz erst, als Leander drei Jahre ist. Eigentlich auch nur durch Zufall. Weil sie dem Chef der Würzburger Uniklinik auf dem Gang von den Symptomen erzählen – und der Professor stutzig wird. Danach dauert es nicht mehr lange, bis sie Gewissheit haben: Ihr Sohn hat Morbus Hunter, eine ebenfalls seltene Stoffwechselkrankheit. Die Krankheit ist progredient, das heißt: Der Sechsjährige verliert nach und nach all seine Fähigkeiten. Die paar Worte, die er sprechen konnte, hat er bereits verlernt.

Thomas Fritz hat viel im Internet gesucht und gelesen: „Wir kannten die Krankheit, aber man versteht sie nicht. Man hat einen Namen, man weiß aber nicht, was das für das Kind und die Familie bedeutet.“ Eine Erkrankung gilt als selten, wenn weniger als fünf von 10 000 Menschen das Krankheitsbild aufweisen. Der Allianz Chronischer Seltener Krankheiten (Achse) zufolge sind ungefähr 8000 Seltene Erkrankungen bekannt, viele davon chronisch und unheilbar. Sie enden oft innerhalb weniger Jahre tödlich.

Meist sind die Krankheiten genetisch bedingt

In etwa 80 Prozent der Fälle sind Seltene Erkrankungen genetisch bedingt – wie auch bei Dario und Leander. Die Diagnosen haben das Leben der zwei Familien durcheinandergewirbelt. All die Pläne, Hoffnungen und Wünsche, die das Ehepaar Fritz mit seinem Kind verbunden hatte, sind wie weggeblasen. Sie wolle nicht zu sehr darüber nachdenken, was Morbus Hunter noch alles mit ihrem Leander machen wird, so Michaela Fritz. Momentan geht es ihm gut, er lebt in seiner Welt und ist zufrieden damit. Aber Erkrankte können irgendwann nicht mehr alleine laufen oder essen, irgendwann bekommen sie starke Schmerzen – und sterben.

So viel weiß man über Darios Krankheit noch nicht. Birgit Hardt und Folker Quack kennen inzwischen 25 betroffene Familien - das klingt nach wenig, ist für die beiden aber unglaublich viel. Denn als ihnen ein Fachmediziner über den Subtyp von Darios Krankheit berichtet, sagt er ihnen auch: „Sie werden nie ein anderes Kind mit genau diesem Typ zu sehen bekommen, so selten ist das.“ Inzwischen kennen sie zwei junge Frauen aus der Schweiz – sie sind 18 und 21 Jahre alt, mit genau diesem Sandhoff-Typ. „Das gibt einem schon Mut“, sagt Hardt. Doch niemand kann sagen, ob die Krankheit bei Dario auch so verlaufen wird.

Familie Hardt/Quack fährt mehrmals pro Jahr in den Urlaub, sie treffen andere Betroffene im von ihnen mitgegründeten Selbsthilfeverein in Deutschland und ganz Europa. „Wir können nicht mehr viel planen“, sagt Folker Quack. Auch wenn es Dario gerade gut geht, weiß niemand, was morgen ist. Ein Problem, das auch Familie Fritz kennt. Beide Familien wünschen sich, dass ihre Umwelt so normal wie möglich mit ihnen umgeht. „Nicht anstarren, aber auch nicht weggucken“, sagt Thomas Fritz. Eine Einschätzung, die Birgit Hardt teilt: „Man wird zunehmend übersehen. Die Kinder aus dem Kindergarten sind zusammen in der Schule, die Eltern bleiben in Kontakt – wir verlieren ihn. Man wird ausgegrenzt, auch wenn meist unbewusst.“ Vergleichbar mit häufigeren schweren Krankheiten wie Krebs sei die Situation kaum, findet Michaela Fritz: „Bei Krebs weiß man, was es ist. Meist kann man etwas dagegen tun. Wir wussten lange gar nicht, was unser Sohn hat. Diese Ungewissheit und die Unwissenheit vieler Ärzte sind zermürbend.“

Seltene Erkrankungen

Definition Von einer Seltenen Erkrankung spricht man, wenn weniger als fünf von 10 000 Einwohnern ein spezifisches Krankheitsbild aufweisen. Es gibt mehr als 8000 Seltene Erkrankungen, viele von ihnen sind genetisch bedingt und betreffen den Stoffwechsel.

Diagnose Die Diagnose ist langwierig und schwierig, weil oft viele einzelne Symptome zusammen auftreten und sich etliche Seltene Erkrankungen ähneln. In Deutschland sind ungefähr vier Millionen Menschen betroffen. Der Großteil dieser Krankheiten ist nicht heilbar und mit schwersten Beeinträchtigungen verbunden.

Aktionstag Um auf die Probleme der Betroffenen aufmerksam zu machen, wird seit zehn Jahren am 29. Februar – in Nichtschaltjahren am 28. Februar – der Tag der Seltenen Krankheiten begangen.

Versorgung Betroffene wünschen sich „keine bessere Versorgung als Menschen mit häufigeren Erkrankungen“, heißt es bei Achse, aber eine „Chance auf gleichwertige Versorgung“. Zumal sie es im Umgang mit Krankenkassen und Behörden oft noch schwerer hätten als Betroffene häufigerer Krankheiten. So gebe es bei der Beantragung von Parkausweisen, medizinischen Hilfsmitteln oder professioneller Unterstützung „viel Unkenntnis der Entscheidungsträger“.

Hilfe Es gibt im ganzen Bundesgebiet mehr als 30 Zentren, die sich auf die Diagnose und Therapie Seltener Krankheiten spezialisiert haben – meist an Universitätskliniken. Zudem finden Betroffene und ihre Angehörigen im Internet Hilfe und Ansprechpartner. Die Informationsangebote sollen die bisher oft jahrzehntelangen Odysseen Betroffener bei der Diagnose ihrer Erkrankungen abkürzen. Informationen Zentren für Seltene Erkrankungen: www.se-atlas.de Informationsportal über Seltene Erkrankungen: www.seltenekrankheiten.de