Abrechnungsbetrug und Körperverletzung: massive Vorwürfe enthält die Anklage gegen drei Augenärzte. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart will ihnen gar ein Berufsverbot auferlegen lassen.
Es war schon fast ein kleines Ritual. Alle paar Monate erkundigte sich unsere Zeitung bei der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, ob es etwas Neues gebe bei den Ermittlungen gegen Augenärzte. Immerhin wurde bereits seit 2017 geprüft, ob mehrere Mediziner eines süddeutschen Verbundes schweren Abrechnungsbetrug und gefährliche Körperverletzung begangen haben. Nicht aus medizinischen Gründen, so der Verdacht, sondern des Geldes wegen sollen sie Patienten zu nicht oder noch nicht notwendigen Operationen gedrängt und diese teils auch durchgeführt haben – besonders bei grauem Star, einer im Alter weit verbreiteten Linsentrübung. Im Jahr 2019 war das durch eine Razzia in Praxen und Privaträumen bekannt geworden, danach wurde es wieder stiller um die Vorwürfe. Die Antwort der Justizsprecherin war stets die gleiche: das Verfahren laufe noch, man könne in einem Vierteljahr wieder nachfragen. Zuletzt aber klang es plötzlich anders. Derzeit sei keine Auskunft möglich, hieß es nun, ohne jede Begründung.
Die Erklärung kam wenig später aus der Ärzteschaft. Auch dort wurden die Ermittlungen gegen die namentlich teils bekannten Kollegen aufmerksam verfolgt – mit höchst gemischten Gefühlen. So schädlich der Verdacht für den gesamten Berufsstand sei, hieß es, so wichtig sei dessen Aufklärung. Angesichts der langen Dauer wuchs indes die Sorge, dass die Staatsanwälte und das beauftragte Landeskriminalamt dabei scheitern könnten. Es sei womöglich doch zu schwierig, die Vorwürfe im Nachhinein zu überprüfen. Beim Einsetzen einer künstlichen Linse etwa werde die alte entsorgt, da lasse sich nicht mehr feststellen, ob der Eingriff wirklich nötig war. Die Beschuldigten selbst reagierten zudem selbstbewusst. „Vollumfänglich falsch“ seien die Vorwürfe, ließen sie ihren Anwalt stets erklären, man unterstütze die Ermittlungen und setze auf schnellstmögliche Aufklärung. Dann aber, acht Jahre nach den ersten Strafanzeigen von Ärzten, Patienten und einer Bezirksärztekammer, gab es doch Neuigkeiten. In dem Fall sei es zu zwei Verhaftungen gekommen – wie ein Lauffeuer machte das im September in Ärztekreisen die Runde. Der Verdacht scheine sich also erhärtet zu haben, die Ermittler kämen offenbar doch voran.
Ermittlungen liefen seit acht Jahren
Das bestätigt nun auch die Staatsanwaltschaft. Bereits Anfang August habe man beim Landgericht Stuttgart Anklage gegen zwei Männer und eine Frau erhoben. Die Vorwürfe gegen die beiden Hauptangeschuldigten, die Frau und einen Mann, auch laut einem Gerichtssprecher: 45 Fälle von gemeinschaftlichem Betrug in einem besonders schweren Fall, 26 Versuche dazu, mehrere Fälle von gefährlicher Körperverletzung sowie zwei Vergehen des „Ausstellens unrichtiger Gesundheitszeugnisse“. Bei einem dritten Arzt geht es nur um einzelne Fälle, das Verfahren gegen einen vierten wurde eingestellt.
Vor allem Privatpatienten als Geschädigte?
Zwischen 2015 und 2021, so die Anklage, sollen die Augenmediziner insgesamt 43 459,46 Euro „für medizinisch nicht indizierte Untersuchungen abgerechnet“ haben. Materiell Geschädigte sollen demnach überwiegend Privatpatienten und ihre Krankenversicherungen sein, aber auch gesetzlich Versicherte, denen privat zu bezahlende Zusatzleistungen berechnet worden seien. Dazu sollen die körperlich Verletzten kommen. Laut dem Landgericht beantragte die Staatsanwaltschaft zudem, ein Berufsverbot gegen die drei Angeschuldigten anzuordnen. Das kann nach dem Strafgesetzbuch bei berufsbezogenen Verurteilungen für bis zu fünf Jahre verhängt werden. Voraussetzung: die „Gesamtwürdigung des Täters“ lasse befürchten, dass er „bei weiterer Ausübung des Berufs“ erneut „erhebliche rechtswidrige Taten“ begehen werde. Schlimmeres könnte man Menschen kaum vorwerfen, die einst den hippokratischen Eid abgelegt haben. Feierlich geloben sie darin, ihr Leben in den „Dienst der Menschlichkeit“ zu stellen: „Die Gesundheit und das Wohlergehen meiner Patientin oder meines Patienten werden mein oberstes Anliegen sein.“
Wie aber kam es zu den Haftbefehlen, die auf Antrag der Staatsanwaltschaft von einem Gericht erlassen werden? Bestehe womöglich Fluchtgefahr, wie in Ärztekreisen spekuliert wurde? Das sei falsch und rufschädigend, widersprach der Anwalt der Angeschuldigten auf Anfrage. Der tatsächliche Haftgrund laut der Anklagebehörde: in beiden Fällen bestehe „Wiederholungsgefahr“. Die Haftbefehle seien in einem noch laufenden Folgeverfahren ergangen, in dem es um „gleich gelagerte Vorwürfe“ aus den Jahren 2020 bis 2025 gehe. Ein Arzt und eine Ärztin hätten sich in Untersuchungshaft befunden. Inzwischen seien die Haftbefehle „gegen umfangreiche Auflagen außer Vollzug gesetzt werden“ – welche im Einzelnen, bleibt vorerst offen. „Meine Mandanten sind nicht in Haft“, konstatierte ihr Anwalt; Fragen zur Anklage ließ er zunächst unbeantwortet.
Zwanzig exemplarische Fälle herausgegriffen
Nach früheren Informationen unserer Zeitung sehen sich die Augenärzte des Verbundes ihrerseits als Opfer: Sie würden von einem kleinen Kreis von Kollegen und von einem Klinikprofessor verfolgt, die mit falschen Behauptungen gegen die erfolgreiche Konkurrenz vorgingen. Bei den zwanzig untersuchten Fällen gehe es um einen winzigen Bruchteil aller Behandlungen in dem Verbund – „0,00001“ Prozent, wie der Anwalt vorrechnete.
Tatsächlich hatte die Staatsanwaltschaft zunächst zwanzig exemplarische Fälle herausgegriffen, hinter denen sie indes ein System vermutet. Es geht besonders um Patienten, die dem Rat zur Operation nicht folgten, sondern eine abweichende Zweitmeinung einholten. Befund: der empfohlene Eingriff wegen grauen Stars sei gar nicht oder zumindest noch nicht nötig. Etliche Betroffene stellten sich der Justiz bereitwillig zur Verfügung und ließen ihre Augen von einem Gutachter untersuchen; dieser dürfte in dem Verfahren eine zentrale Rolle spielen. Auch bei unserer Zeitung meldeten sich in den vergangenen Jahren immer wieder Patienten, die von irritierenden Erfahrungen in Praxen des Verbundes berichteten: Sie hätten sich teils massiv zu einer Operation gedrängt gefühlt – und dann bei anderen Augenärzten Entwarnung erhalten. Auch dies hatte der Verbund schon früher als „vollumfänglich falsch“ zurückgewiesen: die Linse trübe sich schleichend ein, es gebe letztlich keine objektiven Kriterien für oder gegen eine Operation.
Sorge um das Vertrauen in Ärzte
Schon auf das Bekanntwerden der Ermittlungen vor einigen Jahren hatten Ärzteorganisationen mit Sorge reagiert. „Erschrocken und mit großem Bedauern“ äußerte sich der Berufsverband der Augenärzte. Das Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und Patienten werde dadurch „wahrscheinlich nicht nur regional … erheblich und nachhaltig gestört“. Ärzte müssten „kompromisslos korrekt“ handeln, forderte damals der Präsident der Landesärztekammer, Wolfgang Miller. Sollten sich die Vorwürfe gegen die Augenärzte bestätigen, liege sicher ein „extremer Einzelfall“ vor. Nun, angesichts von Anklage und Haftbefehlen, dürften die Patienten noch stärker verunsichert sein. Da der fragliche Verbund bisher nicht genannt werden kann, schlägt auch anderen Praxen Misstrauen entgegen. Einzelne informierten bereits in der Vergangenheit per Aushang in ihren Räumen oder mit Einträgen auf ihrer Webseite, sie seien von dem Verfahren nicht betroffen.
Bis über das beantragte Berufsverbot entschieden wird, kann noch geraume Zeit vergehen. Beim Landgericht Stuttgart liegt die Anklage bei einer Wirtschaftsstrafkammer. Derzeit hätten Angeklagte und Verteidiger Gelegenheit, sich zu den Vorwürfen zu äußern, erläutert ein Sprecher. Wann über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden werde oder gegebenenfalls der Prozess beginne, sei nicht absehbar. Der Grund: Bei der Kammer seien mehrere Haftsachen anhängig, die vorrangig zu verhandeln sind. Ob und wie die noch laufenden Ermittlungen später einbezogen werden könnten, lasse sich gar nicht sagen. Bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung gilt wie stets die Unschuldsvermutung.