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Ging großes Versprechen der Politik bei Polizeireform auf oder war alles nichts weiter als Werbeveranstaltung?

Schwarzwald-Baar-Heuberg - Es war das große Versprechen dieser Polizeireform: dass zwei Beamte mehr auf den Revieren ihren Dienst verrichten. Zwei Beamte, also eine Streife mehr? Das glaubte man landauf, landab. Nur, wo sind sie geblieben, die zwei zusätzlichen Polizisten? Eine Spurensuche.

Es war das Lockmittel, das gelb-goldig glänzende Käsestückchen für die Polizei-Basis, für die Nörgler, für die Skeptiker dieser angedachten Polizeireform. Das Versprechen auch an die Bevölkerung: Die Reviere werden mit zwei zusätzlichen Beamten verstärkt. Diese Botschaft hörte sich viel versprechend an. Damit konnte jeder etwas anfangen, die Rechnung ging im Grunde ganz einfach: ein Beamter plus ein zweiter ergeben eine Streifenwagenbesetzung. Ja?

Aber ging die Rechnung auch auf? Oder war das Ganze ein PR-Gag?

Wenn man das Innenministerium fragt, äußert es sich unserer Zeitung gegenüber eindeutig: "Ein wesentliches Ziel war bei allen Polizeirevieren des Landes, mit mindestens zwei zusätzlichen Planstellen eine Erhöhung der tatsächlichen Personalstärke vor Ort zu erreichen. Dieses Ziel wurde beim PP TUT (Polizeipräsidium Tuttlingen) erreicht. Alle Polizeireviere des Polizeipräsidiums weisen gegenüber dem Referenzstichtag 1. Dezember 2012 zwei zusätzliche Stellen auf (beim Polizeirevier Donaueschingen drei). Unter Hinzurechnung der Freisetzungspotenziale durch die Reform weisen sechs der 14 Reviere drei zusätzliche Stellen auf und ein Revier sogar vier. Gemessen an der Stichtagserhebung 2. Juli 2012 im Verhältnis zum Stichtag 1. Juli 2015 bedeutet dies einen Zuwachs in der tatsächlichen Stärke von 704,61 Personen auf 735,41 Personen."

Also fast 31 Mitarbeiter mehr auf den 14 Revieren im Präsidiumsbereich Tuttlingen. Das ist die offizielle Lesart und sie hört sich gut an. Sie klingt nach Erfolg.

Wenn man die Basis hört, sagen die örtlichen Verantwortlichen oft, dass sie jetzt, im Zuge der Reform, weniger Personal zur Verfügung hätten als davor. Unserer Redaktion liegt ein Schreiben eines Leiters eines besonders ins Hintertreffen geratenen Reviers vor, in dem dieser gegenüber dem Polizeipräsidium in Tuttlingen in einem Brandbrief sinngemäß äußert, die Polizeistrukturreform habe mit absoluter Sicherheit nicht mehr Beamte zur Folge gehabt, sondern eindeutig weniger. Nicht nur das: Es seien zusätzliche Aufgaben dazugekommen, an die man zunächst gar nicht gedacht habe. Die Mitarbeiter seien dafür von den Revieren abgezogen worden. Die Folge: Die Tagesaufgaben rückten in den Hintergrund, weil hierfür immer weniger Polizisten zur Verfügung stünden.

Wer hat Recht? Wem kann man glauben?

Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Fragen fällt auf: Mathematik ist eine höhere Kunst. Kunstvoller ist zuweilen nur die Realität.

In einem anderen Bild ausgedrückt: Mehl, Wasser, Eier und Salz für sich allein betrachtet ergeben noch lange keine gute Spätzle. Es kommt darauf an, was man daraus macht und wie man es anstellt, dass was daraus wird. Spätzleteig muss man anpacken rühren wollen, damit er was wird. Man muss bereit dazu sein, weiteres Mehl oder Wasser dazuzugeben, um die richtige Konsistenz zu erreichen. Und dann geht die eigentliche Arbeit erst richtig los. Eine Annäherung in vier Schritten.  Schritt 1: Organisationsstruktur Nun kommt etwas für die Feinschmecker der Personalplanung: Schichtbetrieb rund um die Uhr. Dafür muss man sich die Organisationsstruktur der Polizei in Baden-Württemberg vergegenwärtigen. In den rund 145 Revieren, die es im gesamten Land gibt, stehen jeweils fünf Dienstgruppen zur Verfügung. Diese fünf Dienstgruppen halten je eine Streifenwagenbesatzung mit zwei Beamten bereit. Sie sorgen rund um die Uhr für Sicherheit vor Ort.

Fünf Dienstgruppen teilen sich 21 Schichten in der Woche

Nun kommen die zwei zusätzlichen Polizisten ins Spiel und man erkennt mit bloßem Auge: Die Reform hat, rein rechnerisch, nur einer der fünf Dienstgruppen eine zusätzliche Streifenwagenbesatzung zuteil kommen werden lassen, die anderen vier Einheiten gingen leer aus.

Bei 21 Schichten in der Woche, die sich die fünf Dienstgruppen teilen, heißt das: In lediglich etwas mehr als vier von 21 Schichten in der Woche kann man, in der Theorie, eine zusätzliche Streife losschicken. Vorausgesetzt, die Kollegen sind gesund, nicht im Urlaub, nicht auf Fortbildung, nicht im Einsatztraining.

Man könnte mit den beiden Polizisten planerisch auch anders umgehen, gerechter: Verteilte man die beiden zusätzlichen Planstellen nämlich gleichmäßig auf die fünf Dienstgruppen, erhält jede Einheit jeweils 0,4 Planstellen. Mit 0,4 Planstellen indes kann man keinen Streifenwagen losschicken.

Als erstes Zwischenergebnis lässt sich folgendes feststellen: Zwei Polizisten ergeben eine Streifenwagenbesatzung, das stimmt. Doch diese ist, theoretisch, aufgrund der Organisationsstruktur und des Schichtbetriebs nur viermal in der Woche im Einsatz. Es kommen weitere Sondereffekte hinzu.   Schritt 2: Zentralisierung Die gesamte Polizeistrukturreform basiert auf einer Leitidee: Zentralisierung. Dadurch, so der Gedanke, würde man zusätzliches Personal, etwa von den aufgelösten Landespolizeidirektionen, zur Verfügung stellen können. Doch die Reform hat gerade durch den Zentralisierungseffekt neue Stellenfresser geboren. Neu sind die Führungs- und Lagezentren, der Kriminaldauerdienst, der Verkehrsunfallaufnahmedienst. Alles Dienststellen, die im Schichtbetrieb rund um die Uhr besetzt sein sollen. Dafür benötigt man zwischen 30 und 40 Beamte. Für jeden Dienst, also zwischen 90 und 120 Kollegen im Präsidiumsbereich Tuttlingen bei einem Personalbestand von rund 1600 Mitarbeitern. Kräfte, die von irgendwoher geholt werden mussten. Es traf die Kriminalpolizei, es traf auch die Schutzpolizei, also die Reviere. Auch hierfür wurde Personal abgezogen.

Insider: Zentrales Führen binde zu viele Kräfte, koste zu viel Zeit

Abgesehen von den Vorteilen, die diese Dienste gelegentlichen mit sich bringen, überwiegen die Nachteile: in Flächenpräsidien wie Tuttlingen die weiten Distanzen, die daraus resultierende Ortsunkenntnis, oftmals übereilte Entscheidungen, purer Aktionismus. Auf den Nenner gebracht: in den zentralen Stellen fehlt das Feeling für die jeweilige Situation am Einsatzort trotz des zweifelsohne vorhandenen Bemühens der Beamten. Ein Dienstgruppenführer sagt sogar: Er ziehe den Hut vor den Kollegen im Führungs- und Lagezentrum, das er im Grunde für eine notwendige Einrichtung hält, jedoch nicht für ein Flächenpräsidium wie Tuttlingen. Die Kolegen dort machten einen guten Job, seien engagiert und hoch motiviert. Doch es seien zu wenig. Die Beamten würden regelrecht verheizt.

Die Polizei-Insider ziehen folgendes Resümee: Zentrales Führen binde zu viele Kräfte, koste zu viel Zeit. Beides fehle für andere Aufgaben. In der "alten Welt", wie im Polizeijargon die Zeit vor der Reform genannt wird, habe das besser gepasst. Die Strukturen waren flexibler. Die Reviere hätten die Aufgaben nicht schlechter gemanagt. Mit dem Personal sei man schonender umgegangen.   Schritt 3: Wohnungseinbrüche Es ist mit das größte Manko. Bei der Reform sei die Wohnungseinbruchskriminalität schlicht unberücksichtigt geblieben. Nachdem die Einbruchszahlen in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen seien und dies für erhebliche Unruhe in der Bevölkerung gesorgt habe, habe man gegensteuern müssen. Neue Ermittlungsgruppen wurden geschaffen. Das Personal stellten die Reviere und die Kriminalpolizei zur Verfügung. Die Kollegen fehlen für den Regeldienst.   Schritt 4: Personalkörper Hinzu kommen weitere Effekte, die es erschweren, das Versprechen, mehr Polizisten auf die Straße zu bringen, einzuhalten. Ein älter werdender Personalkörper und damit ein Mehr an Kollegen, die nur noch im Tagesdienst, nicht jedoch im Schichtbetrieb, eingesetzt werden können. Oder Einsätze wie jene in Stuttgart beim AfD-Bundesparteitag, wo von allen Landesteilen Polizisten in die Landeshauptstadt abgeordnet werden, oft aus der Freizeit kommend. Eine Rechnung mit dem Polizeiwirt Wollte man sicherstellen, dass es rund um die Uhr in den Revieren jeweils eine Streifenwagenbesetzung mehr gibt (was von Experten dringend empfohlen wird), müsste man pro Revier statt zwei gleich zehn Polizisten, nämlich für jede Dienstgruppe zwei, zusätzlich zur Verfügung stellen. Auf das gesamte Land betrachtet, wären es circa 1450 zusätzliche Stellen. Unterstellt man, dass die durch die Reform versprochenen zwei Planstellen an den Revieren tatsächlich geschaffen worden sind oder dort noch ankommen werden, benötigte man rund 1150 bis 1200 zusätzliche Polizisten. Experten für innere Sicherheit halten diese Zahl durchaus für plausibel und heißen die Absicht der neuen grün-schwarzen Landesregierung, im Laufe ihrer Legislatur 1500 neue Stellen zu schaffen, willkommen. Vorausgesetzt, dieses Personal landet tatsächlich dort, wo es gebraucht wird. Als Schutzpolizisten auf den Revieren vor Ort. Das wäre bürgernah.