Zwei von zehn Kindern in Frankreich sind Opfer von Mobbing. Die Suizidrate steigt. Der Staat führt daher ein neues Unterrichtsfach ein.
Der 15-jährige Nicolas lebt im Pariser Vorort Poissy. Er geht in eine Berufsschule, liebt Fußball und die Formel 1. Er will Elektriker werden und danach in „seinem kleinen Land“ leben, auf Marie-Galante im karibischen Guadeloupe, woher sein Vater stammt. Jeder kenne dort jeden und sei nett. Doch es kommt anders. Im September 2022 beginnen drei Mitschüler, Nicolas zu hänseln, zu beleidigen, zu plagen. Sie wollen ihn fertigmachen. Er sei hässlich, keiner liebe ihn, seine Mutter sei eine Schlampe. Die Quälerei hört nicht auf.
Die Eltern erfahren erst davon, als der Klassenlehrer anruft, weil Nicolas seit drei Tagen in der Schule fehlt. Sie versuchen, ihrem Sohn zu helfen, doch die Schikane geht weiter, Nicolas hat ständig Angst. Im Februar versucht er sich umzubringen. Die Eltern schalten die Schulleitung ein. Doch alles wird nur noch schlimmer: „Elender Petzer!“, rufen jetzt die Jungen. Auch die Schulleitung versagt. Statt der Familie zu helfen, schickt sie einen einschüchternden Brief: Sie fordert die Eltern auf, „eine konstruktive und respektvolle Haltung“ einzunehmen, und erinnert sie daran, dass Verleumdung strafbar sei. Die mobbenden Mitschüler werden mit keinem Wort erwähnt. Sie sind noch immer in der Klasse von Nicolas. Er weiß nun, dass ihm niemand helfen wird. Seine Mutter erzählt später: „Nicolas kannte die Namen aller Mobbingopfer der letzten zwei Jahre. Er war entsetzt darüber, dass die Jugendlichen damit alleingelassen wurden. Wie viele Fälle muss es noch geben, fragte er mich.“ Anfang September, am zweiten Schultag nach den Ferien, erhängt sich Nicolas mit einem Kissenbezug an den Stäben seines Hochbetts.
Vorgesehen ist, Tätern das Handy wegzunehmen
Der Suizid löst im Land Entsetzen aus. Es ist, als ob Politik und Gesellschaft endlich zur Kenntnis nähmen, was auf den Pausenhöfen passiert. Nicolas’ Mutter erhält Besuch von der Präsidentengattin Brigitte Macron und dem Bildungsminister Gabriel Attal. Attal räumt ein, dass Fehler gemacht wurden.
Nicolas’ Tod soll nicht folgenlos bleiben. Regierungschefin Élisabeth Borne trommelt das halbe Kabinett zusammen und lässt ein Maßnahmenpaket schnüren. Die wichtigste Neuerung ist ein neues Schulfach: Empathie. Frankreichs Kinder sollen Mitgefühl lernen.
Nach den nächsten Sommerferien wird das neue Fach flächendeckend eingeführt. Einmal pro Woche steht dann in Kindergärten und Grundschulen neben Lesen, Rechnen und Schreiben auch Mitfühlen auf dem Stundenplan. Vorgesehen ist zudem, Tätern das Handy wegzunehmen oder den Zugang zu sozialen Netzwerken zu sperren. Auch neue Anlaufstellen für Opfer soll es geben.
Lehrkräfte fühlen sich hilflos
Als Hauptgrund für die schwindende Empathie gilt der wachsende Einfluss sozialer Netzwerke. Sie verleiten zu hasserfüllten Kommentaren, die größte Aufmerksamkeit versprechen. Michel Desmurget, Direktor am französischen Institut für Gesundheit und medizinische Forschung, stellt einen direkten Zusammenhang fest zwischen einer Zunahme des Narzissmus und dem Niedergang der Empathie. Wird das neue Schulfach helfen? Michaël Marcilloux, ehemals Mathematiklehrer in der Pariser Vorstadt Argenteuil und heute Generalsekretär der Lehrergewerkschaft CGT-Éducation, hält Empathieunterricht für eine gute Idee: „Wir müssen das Übel an der Wurzel bekämpfen.“ Als Lehrer fühlte er sich hilflos. „Die Unterrichtsräume sind überfüllt, in den Gängen herrscht Gedränge, auf dem Pausenhof geht es drunter und drüber. Wie soll man da Mobbing entdecken?“, fragt er. Die Täter stellten ihren Opfern zudem oft außerhalb der Schule nach, wo kein Lehrer einschreiten könne: in der Kantine, im Schulbus, auf dem Sportplatz oder im Internet. Nicht nur Marcilloux fühlt sich hilflos, zwei Drittel der Lehrkräfte sehen sich laut einer Umfrage für den Kampf gegen das Mobbing „nicht gerüstet.“
Aus einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Ifop von Mitte November geht hervor, dass 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen gemobbt werden. Das Bildungsministerium hatte den Anteil ein Jahr zuvor noch auf zehn Prozent geschätzt. Nun soll also ein neues Unterrichtsfach dagegen angehen. In Dänemark, wo Empathie bereits seit 2005 auf dem Lehrplan steht, ist Mobbing deutlich zurückgegangen.