Der Angeklagte sei am 17. März 2018 um 4 Uhr morgens die Steige hochgefahren, obwohl die Straße zu dieser Zeit gesperrt gewesen sei, so die Staatsanwältin. Foto: Riesterer

Mann mit dem Auto mitgeschleift und zurückgelassen. Richter spricht Urteil.

Schramberg/Rottweil - Lügen, Blutspuren, schwerste Verletzungen des Opfers und ein Zusammenbruch des Angeklagten: Sechs Jahre und zwei Monate muss dieser nun nach dem Urteil im "Steige-Prozess" hinter Gitter - wegen versuchten Mordes, fahrlässiger Körperverletzung und unerlaubten Entfernens vom Unfallort.

Der Hauptvorwurf von Richter Karlheinz Münzer als Vorsitzender der Schwurgerichtskammer: "Sie sind weitergefahren", sagte er an die Adresse des 50-jährigen Angeklagten. Und das, obwohl dieser gesehen habe, dass das Leben des Opfers in Gefahr war. Ein solcher Unfall könne jedem passieren, so Münzer. Allerdings habe der Angeklagte das Opfer mehr als 320 Meter mitgeschleift, habe dann sechs Meter zurückgesetzt und sei weitergefahren. "Das ist nicht nachvollziehbar", lautete Münzers Einschätzung, der sich in seiner Begründung auch auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs bezog.

Nach dem Unfall fuhr der Angeklagte zu seinen Bekannten und ließ sich nichts anmerken. Zudem habe er die Bekannten angelogen, die nachfragten, was denn das Auto für Geräusche mache. Das komme von einer mangelhaften Reparatur in einer Werkstatt, log er.

Besonders tragisch: Das Opfer feierte in jener Nacht den Abschied von Freunden, da er in Hamm ein neues Leben und einen neuen Job beginnen wollte. Daraus wurde nichts, der Mann ist bis heute an den Rollstuhl gefesselt.

Narzisstische Züge

Eine verminderte Schuldfähigkeit, so der Richter, liege beim Angeklagten trotz einer depressiven Verstimmung samt selbstunsicheren und narzisstischen Zügen nicht vor, sagte der Richter. Der im Iran geborene Mann sei 1997 nach Deutschland gekommen und hatte anschließend bis zuletzt verschiedene Arbeitsstellen.

Flammende Plädoyers hielten zuvor die Staatsanwältin und der Verteidiger des 50-jährigen Angeklagten – und sie kamen dabei zu völlig unterschiedlichen Schlüssen. Die Staatsanwältin sprach sich für ein Strafmaß von sieben Jahren und vier Monaten aus, der Verteidiger hielt eine viermonatige Bewährungsstrafe für angemessen.

Staatsanwältin und Nebenklägerin polterten gehörig los. Der Angeklagte hingegen kauerte sich immer mehr auf seinem Stuhl zusammen und blickte hilfesuchend zur Übersetzerin, die ihm die Vorwürfe erläuterte.

Der Angeklagte sei am 17. März 2018 um 4 Uhr morgens die Steige hochgefahren, obwohl die Straße zu dieser Zeit gesperrt gewesen sei, so die Staatsanwältin. Dabei wollte er Bekannte in der Hohlgasse Sulgen abholen und zum Flughafen Stuttgart bringen.

150 Meter nach Ortsschild erfasste der 50-Jährige mit seinem Wagen das auf der Straße liegende alkoholisierte Opfer und schleifte es 320 Meter mit. Er habe sich auch nicht vom Rumpeln sowie dem Brechen von Kunststoff am Fahrzeug abhalten lassen, so die Staatsanwältin in vorwurfsvollem Ton. Anschließend habe er zurückgesetzt und das Opfer liegen lassen.

Dem Opfer seien die Muskeln im Rücken "weggeraspelt worden", zudem habe es Frakturen an Oberschenkel und Rippen erlitten. Der Mann habe 28 Operationen über sich ergehen lassen müssen und sei vier Monate auf der Intensivstation gelegen. Die Eltern müssten nun in Wechselschicht arbeiten, um den 29-Jährigen pflegen zu können. "Sein Leben wurde unwiderruflich verändert", sagte die Staatsanwältin.

Der Angeklagte habe zu der Zeit nicht dort fahren dürfen und hätte das Opfer auf der Straße sehen liegen müssen. Dass er über einen Ast gefahren sei, sei eine reine Schutzbehauptung, befand die Staatsanwältin. "Das ist eine nachgewiesene Lüge. Er wollte die Wahrheit vertuschen", war sie sich sicher. Der Angeklagte habe vielmehr in Kauf genommen, dass das Opfer seinen Verletzungen erliege. Der Mann sei nur durch einen Zufall gefunden worden.

Trumpfkarte sticht nicht

Der Verteidiger hingegen sah den Fall völlig anders: "Ein unfassbarer Vorgang und eine tragische Verknüpfung von Umständen", räumte er ein. Allerdings müsse man sich die Person des Angeklagten näher betrachten. Er sei unter Medikamenten gestanden und übermüdet gewesen. Zudem leide er an Angst- und Panikstörungen und glaubte an eine Falle. Außerdem leide er an Sehstörungen, weshalb er Angst um seinen Führerschein gehabt habe.

"Aufgrund seiner körperlichen und psychischen Defizite erkannte er nicht, dass er einen Menschen überfahren hatte", lautete der Schluss des Verteidigers. Auch die Zeugin, die das Opfer aufgefunden hatte, habe den Mann erst im letzten Moment erkannt.

Zudem gehe die Wahrscheinlichkeit gegen null, dass außerhalb einer Ortschaft mitten in der Nacht ein Mensch auf der Straße liege. Daher könne nicht von einem bedingten Vorsatz einer Tötung gesprochen werden.

Der Verteidiger zog anschließend seine Trumpfkarte, die aber nicht stach: Der Mann sei als korrekt und hilfsbereit bekannt. Nach der Tat sei er ruhig gewesen, was Zeugen bestätigten. "Das passt nicht zusammen, wenn man damit rechnen muss, kurz zuvor einen Menschen umgebracht zu haben", befand der Verteidiger.

Erst als er Stunden später zu seinem Fahrzeug zurückkam, dort Polizeibeamte sah und diese ihm eröffneten, was passiert sei, sei es zum Zusammenbruch gekommen. Das sei nicht gespielt gewesen.