Die Protagonisten inmitten der Kleiderberge Foto: Hartmann Foto: Schwarzwälder Bote

Theaterring: Badische Landesbühne zeigt "Urfaust" / Spielereien lassen Figuren verblassen

"Wer wäre Faust heute?" – ist eine der Fragen, die Regisseur Joerg Bittrich bei seiner Inszenierung von Goethes "Urfaust" ins Zentrum stellt. Vor vollem Haus im Bärensaal hat die Badische Landesbühne Bruchsal eine gewagte Inszenierung gezeigt.

Schramberg. Viele junge Zuschauer fanden sich im Publikum, was daran lag, dass Faust Schwerpunktthema im Abitur ist. Die Aufführung zeigte einmal mehr Einblicke in die Experimentierstube der Landesbühne.

Goethes Faust ging ein langer Entstehungsprozess voran, der sich anhand von drei Fassungen verfolgen lässt. Die erste davon, der sogenannte Urfaust, besteht aus 22 Szenen in lockerer Folge, scheinbar ohne bewusste Führung und ohne Bindeglieder.

Der "Urfaust" ist ein Fragment, gewissermaßen der Kern des späteren Werks, wenn auch noch weniger komplex und vielschichtig: Faust bricht mit unstillbarem Freiheitsdrang aus der rationalen Welt der Aufklärung aus und will mit Mephistos Hilfe "erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält".

Anders als der Protagonist in Goethes nahezu gleichzeitig entstandenem "Die Leiden des jungen Werther", der genau wie Faust an dem Dilemma zwischen der Sinnlichkeit des Sturm und Drang und der Rationalität der Aufklärung scheitert und der den Tod als Ausweg wählt, gibt Faust der durch Mephisto verkörperten Verführung durch das Leben nach – mit nicht minder fatalen Folgen.

Freiheitsdrang und Suche nach dem Sinn

Den berühmten Pakt zwischen Gott und Mephisto gibt es im "Urfaust" noch nicht. Ins Zentrum stellt Gothe vielmehr das Liebesdrama um Gretchen, welche letztlich den Preis für Fausts egoistisches Erkenntnisstreben zahlen muss. Fausts Suche nach Sinn und seine Hybris stellt Bittrich ins Zentrum seiner Inszenierung. Der absolute Freiheitsdrang des 250 Jahre alten Protagonisten trifft somit auf die unbeschränkte Freiheit modernen Regietheaters.

Dies zeigt sich schon am Umgang mit dem Text, der oft gekürzt, mit Passagen aus späteren Fassungen ergänzt und stellenweise gar auf Englisch rezitiert wird.

Dem Text des Urfaust vorangestellt wurde beispielsweise Goethes Prometheus, das ganz in Sturm-und-Drang-Manier mit revolutionärer Hybris gegen die alten Autoritäten wettert.

Dessen Zeilen "Hier sitz ich, forme Menschen nach meinem Bilde" stehen für die Hybris, die Bittrich auch in Faust sieht. Immer wieder wird der Zuschauer mit modernen Ausprägungen des faustschen Hochmuts konfrontiert, sei es als Gretchen-Klone auf der Bühne oder in den Kleiderbergen des Bühnenbilds. Zugegebenermaßen gewagte Assoziationen zu den Kleiderbergen in Auschwitz sind hier explizit gewünscht – gewissermaßen als Symbol für die ultimative Ausprägung der in Faust inhärenten Hybris.

Anspielung auf teuflische Natur

An Stellen, die Fausts Beziehung zu Mephisto thematisieren, springen die Darsteller in Anspielung auf Bluesgitarrist Robert Johnson, dem man wegen seines Gitarrenspiels einen Pakt mit dem Teufel nachsagte, ins Englische – sei es als Anspielung auf die teuflische Natur der Allianz auf der Bühne oder als weitere Option für einen modernen Faust.

Auch Gretchen lässt Bittrich für einen Moment aus ihrer Rolle treten und ihre Wut über das Frauenbild des 18. Jahrhunderts in einem freien Monolog à la #MeToo hinausschreien – am Ende muss sie dennoch an ihrer Situation zerbrechen.

Kindsmord als einziger Ausweg

Ihr selbstbewusstes Aufbegehren mag für einen modernen Zuschauer zwar durchaus verständlich sein – es ist jedoch nur schwer mit Goethes ausgelieferter Margarethe vereinbar, die in der nächsten Szene im Kindsmord den einzigen Ausweg sieht.

Bittrichs Inszenierung ist zweifelsohne klug und durchdacht, und nahezu alle Aspekte sind für sich betrachtet gelungen – allzu viele experimentelle Spielereien lassen jedoch vor allem Faust und Mephisto trotz erstklassiger Besetzung merkwürdig verblassen.

Ob der Anspruch, den "Urfaust" für Jugendliche moderner und greifbarer zu machen, gelungen ist, darf angesichts dieser anspruchsvollen Inszenierung zumindest angezweifelt werden.