Reichsfinanzminister Matthias Erzberger, der am 1. Juni 1920 im Bärensaal in Schramberg sprach.Foto: Privat Foto: Schwarzwälder Bote

Serie: Wahlen vor 100 Jahren führen auch in Schramberg zur Radikalisierung / Parteien locken prominente Redner in die Stadt

Heute vor 100 Jahren fanden die ersten Reichstags- und Landtagswahlen in der Weimarer Republik statt. In der Industriestadt Schramberg zeigte sich wie überall im Deutschen Reich eine politische Radikalisierung.

Schramberg. Nach der Novemberrevolution hatten auf Reichsebene die Nationalversammlung in Weimar und auf Landesebene die Landesversammlung in Stuttgart Verfassungen für die neue Demokratie erarbeitet. In beiden Gremien hatten Politiker aus Schramberg mitgewirkt: in Weimar der Arbeitersekretär Josef Andre (1879 bis 1950) vom Zentrum, in Stuttgart ebenfalls Josef Andre sowie der Porzellanmaler Albert Bauer (1883 bis 1959) von der SPD und Katastergeometer Rudolf Linkenheil (1880 bis 1939) von der Deutschen Demokratischen Partei (DDP).

Nach Abschluss der verfassungsgebenden National- und Landesversammlungen wurden zum 6. Juni 1920 die ersten Reichstags- und Landtagswahlen angesetzt. Mittlerweile hatte die junge Demokratie mit dem "Kapp-Lüttwitz-Putsch" auch ihre erste Krise überstanden, wurde von ihren rechten und linken Gegnern aber nach wie vor angefeindet und bekämpft. Aus politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gründen kam es zu einer zunehmenden politischen Radikalisierung, die sich auf der politischen Linken insbesondere in der Gründung der KPD zeigte, die zu Beginn des Jahres 1920 auch in Schramberg eine Ortsgruppe gründen konnte.

Als große Belastung wurde vor allem die "Zwangswirtschaft" empfunden, die zu einer extremen Teuerung von Konsumgütern und Lebensmitteln und Schiebertum und Schwarzhandel führte. In Schramberg hatten sich das Bürgertum und die Arbeiterschaft in den Wahlen zur verfassungsgebenden National- und Landesversammlung im Jahr 1919 zu 96 Prozent zu den staatstragenden Parteien der "Weimarer Koalition" aus DDP, SPD und Zentrum bekannt.

Begann die Zustimmung zur neuen Demokratie nun auch in Schramberg zu bröckeln? Zur Reichstagswahl trat aus Schramberg für das Zentrum auf Platz 4 der Landesliste der damals in Stuttgart wohnende Arbeitersekretär Josef Andre an. Auf Platz 14 kandidierte außerdem Klara Schweizer (1877 bis 1962), die Ehefrau des Emaillefabrikanten Max Schweizer (1873 bis 1924), eine frühe Frauenpolitikerin, die in ihrer Heimatstadt bis heute zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist.

Bei den Landtagswahlen schickten Zentrum, DDP und SPD ihre bewährten Männer Josef Andre, Albert Bauer und Rudolf Linkenheil ins Rennen. Im "Schwarzwälder Boten" veröffentlichte Rudolf Linkenheil, der sich bereits im Kaiserreich viel mit dem Thema Wahlrecht befasst hatte, auch "Winke für die Wahl am nächsten Sonntag", um seine Mitbürger mit dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht noch mehr vertraut zu machen.

Neue politische Kräfte

Im Jahr 1920 traten in Schramberg aber auch neue politische Kräfte auf. Auf der Linken zum einen die USPD und die KPD, auf der Rechten zum anderen die (konservative) Demokratische Volkspartei (DVP) und die (nationalistische) Württembergische Bürgerpartei, ein regionaler Ableger der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Auch die Anhänger der DVP und der Württembergischen Bürgerpartei gründeten in Schramberg Ortsgruppen. Die neuen Parteien waren durch Werbeanzeigen im "Schwarzwälder Boten" sehr aktiv. Die Württembergische Bürgerpartei bekannte sich zu einem "Rechtsblock" und trat aggressiv als offen antisemitische Partei auf.

Von Pfingsten am 23. und 24. Mai 1920 bis zu den beiden Wahlgängen am 6. Juni 1920 mobilisierten alle Parteien in Schramberg ihre Anhänger mit prominenten Rednern. Die SPD begann am 23. Mai 1920 mit der bekannten SPD-Politikerin Laura Schradin (1878 bis 1937) aus Reutlingen und krönte ihren Wahlkampf mit Reichsarbeitsminister Alexander Schlicke (1863 bis 1940) aus Berlin, dem Vorsitzenden des Deutschen Metallarbeiterverbands, der in Schramberg damals mehr als 2000 Mitglieder zählte. Die DDP konnte den württembergischen Kultminister Johannes (von) Hieber (1862 bis 1951), den Syndikus der Handwerkskammer Reutlingen, Karl Hermann (1886 bis 1933), und den badischen Landtagsabgeordneten Oskar Muser (1850 bis 1936) aus Offenburg nach Schramberg holen.

Den größten Erfolg erreichte aber das in Schramberg durch die katholische Bevölkerungsmehrheit führende Zentrum, für das Reichsfinanzminister a.D. Matthias Erzberger (1875 bis 1921) sprach, der am 11. November 1918 den Waffenstillstand zur Beendigung des Ersten Weltkriegs unterzeichnet hatte und deshalb wie kein anderer Politiker der jungen Demokratie im rechten Lager verhasst war. Einige Tage zuvor explodierte in Esslingen ein Sprengkörper in einer Wahlversammlung. Ein Jahr später fiel der Spitzenpolitiker am 26. August 1921 bei Bad Griesbach einem Attentat rechtsgerichteter Offiziere zum Opfer.

Aber auch in der eigenen Partei war der einst jüngste Reichstagsabgeordnete, den man in Schramberg von den Anfängen seiner Karriere an kannte, nicht unumstritten. Einer seiner treuesten Anhänger war Josef Andre aus Schramberg, der 1904 das Arbeitersekretariat in der Diözese Rottenburg von ihm übernommen hatte. Beim Nominierungsparteitag des Zentrums erklärte Josef Andre am 15. Mai 1920 in Stuttgart: "Erzberger ist der Mann, den das heutige Deutschland in letzter Linie braucht."

Erzberger trat im Wahlkampf auch in Rottweil und Spaichingen auf und kam am 29. Mai 1920 nach Schramberg. Die damalige Turnhalle – heute steht an ihrem Platz das Gymnasium – war nach einem zeitgenössischen Pressebericht kaum in der Lage, die zahlreichen "Angehörige[n] aller Stände und Parteien, Frauen und Männer, Jugend und Alter" zu fassen, die gekommen waren, um den Politiker zu hören, "dem das Geschick der Nation anvertraut wurde und der das Menschenmöglichste geleistet hatte, um aus dem Untergang zu retten, was noch zu retten war."

Ränder erstarken

In einer zweistündigen, "von heißem Leben und Fühlen durchzitterten Rede […] hingen die vielen hunderte von Besuchern am Munde des Redners". Am "interessantesten und packendsten" waren seine Ausführungen über das Kriegsende und den Zusammenbruch: "Es war einfach unmöglich, dass wir den Krieg gewinnen konnten, nachdem die ganze Welt gegen uns kämpfte […] Wenn ich gar nichts anderes getan habe in den 20 Jahren meiner politischen Tätigkeit als den Frieden geschaffen und den weiteren Krieg verhindert, so habe ich genug getan."

Abschließend rief der charismatische Redner dazu auf: "Wir müssen ein demokratisches Deutschland aufbauen mit völlig gleicher politischen Berechtigung, sonst erhalten wir den sozialistischen Staat […] Das Volk kann noch elender werden, es kann noch mehr verkümmern, aber der Aufstieg wird kommen; das deutsche Volk wird nicht sterben, es werden bessere Zeiten für dasselbe kommen."

Bei der Reichstagswahl am 6. Juni 1920 behauptete sich die "Weimarer Koalition" in Schramberg mit insgesamt 79 Prozent. Das Zentrum konnte sich als nun führende politische Kraft von 37 auf 42 Prozent verbessern. Die SPD und die DDP mussten mit Stimmenverlusten von 19 und drei Prozent starke Verluste hinnehmen. Die USPD nahm um zehn Prozent zu, die KPD kam aus dem Stand auf fünf Prozent.

Bei der Landtagswahl zeigte sich ein ähnliches Bild. Albert Bauer und Rudolf Linkenheil wurden nicht gewählt. Josef Andre zog aber über die Landesliste in den Landtag ein und hatte seitdem mit seinem Reichstagssitz ein Doppelmandat. Die politischen Ränder waren nun auch in Schramberg erstarkt. Was Josef Andre am 12. Juni 1920 kommentierte, sollte zutreffen: "Seitherige Koalitionspolitik kaum mehr möglich." Die Mehrheit der "Weimarer Koalition" war verloren und zwar dauerhaft bis zum Ende der Weimarer Republik.

Di e Serie und das Logo: Das ehemalige Lichtspielhaus in der Architektur des "Bauhauses" ist ein herausragendes Kulturdenkmal der Weimarer Republik in Schramberg. In seinem Zeichen erscheint in Kooperation mit dem Historiker und Kulturwissenschaftler Carsten Kohlmann in unserer Zeitung die Serie "100 Jahre Weimarer Republik in Schramberg", die von 2019 bis 2033 in einem vielfältigen Bilderbogen zahlreiche weitgehend vergessene Aspekte und Ereignisse dieser Epoche in Erinnerung rufen wird. Im heute, Samstag, erscheinenden vierten Teil geht es um den 100. Jahrestag der Reichstags- und Landtagswahl vom 6. Juni 1920.