Blick auf die Berneckstraße mit den beiden Gebäuden 26 und 28 von Felix Haas auf einer Postkarte aus der Zeit um das Jahr 1908 Fotos: Kohlmann Foto: Schwarzwälder Bote

Historie: Zum Abschied von einem Gebäude

Wehmütige Erinnerung an frühere Kleinstadt-Romantik: Vor einigen Tagen wurde in der Berneckstraße ein zuletzt als "Dauerschandfleck" bezeichnetes Gebäude abgerissen.

Schramberg. Auch wenn im Alter von 114 Jahren seine Lebenskraft erschöpft war, blickte das Gebäude Berneckstraße 28 doch auf eine lange Geschichte in seiner Heimatstadt zurück, die zum Abschied mit einem Nachruf gewürdigt werden soll.

Nach der Entwicklung von einem Marktflecken zu einer Industriestadt sucht Schramberg im "Stadtumbau 2030+" nach neuer Attraktivität, Identität, Urbanität und Zentralität – und verändert dadurch wie bereits mehrfach in seiner Geschichte auch sein städtebauliches Erscheinungsbild. Das nun abgebrochene Gebäude Berneckstraße 28 war ein Gebäude aus dem "Stadtumbau 1910+". Als "Stadt im Aufwind" erlebte Schramberg damals eine glanzvolle Blütezeit. Zwischen 1867 und 1914 erreichte Schramberg eine bemerkenswerte Attraktivität, Identität, Urbanität und Zentralität.

Auch die Berneckstraße war damals mit dem Emaillierwerk Schweizer und Söhne, der Berneckschule, dem Krankenhaus, dem Schwarzwälder Tagblatt und der Heilig-Geist-Kirche ein Stadtteil voller Dynamik. In diesem Umfeld zu investieren, war auch für den Gastwirt Felix Haas (1868-1956) attraktiv, der sich damals sogar entschloss, gleich zwei Gebäude neu errichten zu lassen, zuerst 1904 das noch stehende Gebäude Berneckstraße 26 und 1906 das jetzt abgerissene Gebäude Berneckstraße 28.

Städtebaulich war dieser Bereich sehr gekonnt – und für eine Kleinstadt sehr urban. Felix Haas – "zeitlebens ein rühriger und schaffiger Mann", so einmal die Lokalpresse – stammte aus Aichhalden, war 1888 nach Schramberg gekommen und gründete 1891 mit Maria Brucker (1870-1930) eine Familie. Die Gastronomie war damals eine "Goldgrube" – nicht umsonst trägt in Schramberg auch ein bis heute bestehendes Gasthaus diesen Namen.

Nach der Führung mehrerer Gasthäuser als Pächter kaufte Haas 1909 die "Kanone" (An der Steige 33) und benannte sie in "Hasen" um. Auch in der Berneckstraße 26 hätte er gerne ein Gasthaus eröffnet, der Gemeinderat wollte aber in diesem Bereich keine weitere Konzession mehr erteilen.

In der Berneckst raße 28 war von Anfang an im Erdgeschoss ein Laden eingerichtet, den zuerst der Krämer Karl Klaußner (1875-1938) betrieb. 1913 verkaufte Felix Haas das Gebäude an Hermann Kunz (1881-1966) aus der Kirnbachstraße, der dort eine Obst- und Gemüsehandlung betrieb. Am 10. Juli 1920 kam es vor seinem Geschäft bei einer großen Teuerungsdemonstration der Schramberger Arbeiterschaft mit mehreren Tausend Demonstranten zu einem Tumult. Eine aufgebrachte Menge beschuldigte ihn als "Wucherer", wobei er "gestoßen, gewürgt, gekratzt und auf das Trottoir hingeworfen wurde".

1922 gab er nach dieser Erfahrung das Geschäft auf und erwarb in der Schwabenstraße 2 das Gasthaus "Kirnbacher Hof", blieb aber weiterhin Eigentümer des Gebäudes Berneckstraße 28, in dem seit dem zunächst Josef Hils (1897 -1986) und später Johann Georg Breithaupt (1884-1938) die Obst- und Gemüsehandlung fortführten.

1942 wurde das Geschäft mitten im Zweiten Weltkrieg von dem Fabrikarbeiter Heinrich Brotzer (1904-1966) und seiner Ehefrau Klara Brotzer (1905-1990) aus der Kirnbachstraße übernommen. Im Laden gab es die "Kolonialwaren", vor dem Laden in einem überdachten Marktstand Obst und Gemüse.

Viele der in den 1940er- und 1950er-Jahren geborenen Schramberger haben an das "Brotzer-Lädele" sehr lebendige Erinnerungen. Der ehemalige Nachbar Fritz Brodbeck (Jahrgang 1936), der heute in Oberwolfach lebt, erinnert sich besonders an die Herbstzeit, wenn das Filderkraut geliefert wurde und die ganze Nachbarschaft beim Abladen des Fahrzeuges half: "Großkampftage für Vater Brotzer. Mit einem speziellen Messer schnitt er, Kopf für Kopf, die Stotzen raus und entfernte die Deckblätter und seine Helfer bedienten die im Schopf fest installierte Maschine, welche den Krautkopf in dünne Streifchen schnitt. Scharenweise eilten mit Leiterwägelchen und großen Leintüchern die Kundinnen herbei, um bei Brotzers zu kaufen, was nur einmal jährlich zu kriegen war. Jede damalige Hausfrau wusste genau, wie viele Kilogramm Schnittware sie benötigte, um daheim im Keller die ›Krautstaude‹ zu füllen, denn Sauerkraut und Kartoffeln, die man zentnerweise einkellerte, bildeten den Winter über das Fundament des Speiseplans. Auch für uns Kinder boten die Filderkraut-Einschnitts-Tage besonderen Genuss. Von Mund zu Mund ging die Nachricht um: ›Bei Brotzers gibt’s Krautstotzen zum Abnagen!‹ Diese an sich waren hart und ungenießbar, aber außen rum war noch was von den Blättern dran, schmeckte fein und sogar ein klein bißle süß.“

Mit der Familie Brotzer endete in der Mitte der 1960er-Jahre die Tradition der Obst- und Gemüsehandlungen in diesem Gebäude. Es folgten Ende der 1960er-Jahre das Gasthaus "Istanbul" von Junus Hayal als eines der ersten Lokale türkischer Gastarbeiter in Schramberg, in den 1970er-Jahren die Friseurgeschäfte Tenoth und Schuhmacher und Anfang der 1980er-Jahre das "Bräunungsstudio California". Von 1983 bis 2007 befand sich in dem Gebäude die Gaststätte "Treffpunkt", überwiegend von Meta Schumacher geführt.

Mit dem Leerstand seit 2010 wurde der Zustand des Gebäudes immer schlechter. In der Umgebung der Heilig-Geist-Kirche, der Berneckschule und des Gymnasiums hinterließ es einen immer schlechteren Eindruck, so dass es schließlich 2019 von der Stadtverwaltung gekauft wurde, um es abbrechen zu können. Jetzt ist es Geschichte. Im Rückblick kommt aber doch die wehmütige Erinnerung an die frühere Kleinstadt-Romantik von "Alt-Schramberg" auf, die durch die Zeitläufe verschwunden ist.