Die jüngste Tagung des Ateliers für Kulturmorphologie in Schömberg wandte sich bewusst an Psychologen und Therapeuten, um ihnen menschliche Alternativen in der klinischen Diagnostik aufzuzeigen. Foto: Kunert Foto: Schwarzwälder Bote

Medizin: Tagung zur Psychologie in Schömberg / Auseinandersetzung mit dem Seelenleben

Zugegeben: eine Tagung des Ateliers für Kulturmorphologie, wie sie am Wochenende in der Celenus-Klinik in Schömberg stattfand, ist schon ein bisschen "verkopft" und für Außenstehende schwierig nachzuvollziehen.

Schömberg. Wer sich aber auf die Thematik einlässt, erlebt Überraschendes. Und genau darum geht es bei dieser Werkstatt-Veranstaltung für Psychologen, Psychiater, Therapeuten und Sozialarbeiter unter dem Titel "Anders Interpretieren: Kunst – Psychotherapie – Alltag": Wie kann man eingeschliffene Verhaltensweisen als Mensch beeinflussen ("anders interpretieren") und bei Bedarf – also wenn sich Verhalten selbst in negative Bahnen gelenkt hat – in eine neue Gestalt (Morphologie) verwandeln. Wobei das überhaupt nichts Abgehobenes ist. Es geht um Alltagsverhalten; das, was man jeden Tag, jede Sekunde im Leben tut.

"Zum Beispiel: zu dieser Tagung ins schöne Schömberg anreisen", erklärt Frank G. Grootaers (Bad Honnef), Musiktherapeut und Gründer des Ateliers für Kulturmorphologie. Ins Auto einsteigen, Navi einstellen, Motor starten, losfahren: man spult – vermeintlich – ein fixes Alltagsprogramm ab. Aber ein Rasthof an der Autobahn, eine Aussicht im Schwarzwald können einen "Reiz" setzen, das Programm beziehungsweise das Verhalten spontan verändern. Das kann ein Abenteuer sein, für den, der es erlebt.

Alltag anders sehen

Aber die Ablenkung, das Spontane kann auch zu einer echten Bedrohung werden. Zum Beispiel, wenn junge Menschen eigentlich nach der Schule eine Ausbildung beginnen wollen, und den sich verändernden Alltag als eben diese Bedrohung erleben "und sie morgens und mittags nicht mehr aus dem Bett kommen". Weil die Bedrohung des Neuen zu groß ist.

Ängste überwinden

Hier setzen die Möglichkeiten der Therapeuten ein, um die es bei der Tagung in Schömberg ging: Analyse (interpretieren) der Alltagssituationen des Patienten, wobei die Analyse passiert wie die Betrachtung eines Kunstwerkes (das das Leben ja eigentlich ist: eine Aneinanderreihung von menschlichen Kulturleistungen). Um dann die als negativ empfundenen Verhaltensweisen (die Antriebslosigkeit, das Bett nicht mehr zu verlassen) durch neue "Kulturtechniken" zu verändern. Zum Beispiel durch eine Musiktherapie, in der die Angst oder vielleicht auch die eigene Wut auf die Angst weggetrommelt, weggeblasen oder zumindest in Klänge, Sound und Lautstärke umgewandelt werden kann. Als neuer Initial oder Reiz für eine veränderte Gestalt des eigenen Alltags.

Die, wie gesagt, für Außenstehende "ziemlich verkopfte" Auseinandersetzung mit diesen seelischen Prozessen des Menschen macht Sinn, da Therapeut und Patient dadurch ein Werkzeug erhalten, das eigene Seelenleben sich begreifbar zu machen. Und in der Anwendung: "Man ist nicht mehr Getriebener des Lebens, der Umstände, in denen wir leben, sondern wir werden Gestalter in Umgang mit diesen Wiederfahrnissen", so Musiktherapeut Grootaers. Wobei es dabei auch zu einem grundsätzlichen "Perspektivwechsel" der Patienten komme, wie Christof Kolb ergänzend erläutert.

Kolb ist langjähriger Musiktherapeut an der Celenus-Klinik in Schömberg und hat als Mitglied des Ateliers für Kulturmorphologie diese Tagung nicht zufällig in die "Glückgemeinde" geholt: "Es geht bei all dem auch um eine besondere ›Psycho-Ästhetik‹, da unsere Psyche und unsere Wahrnehmung nicht voneinander trennbar sind." Meint: Man kann den Alltag als grau, eintönig und langweilig empfinden. Man kann daraus aber in der Wahrnehmung (bewusst gesteuert) auch ein immer wieder spannendes, anregendes Abenteuer machen (ein Kunstwerk), auf das man sich wegen seiner Buntheit und des Facettenreichtums jeden Tag neu freut. Und das man deshalb immer wieder aktiv und bewusst gestaltet.

Verhalten verstehen

Und genau da steckt auch eine hoch aktuelle politische Dimension dieser Werkstatt-Tagung in Schönberg, wie Chris Mömesheim (Riedstadt/Hessen) erläutert, ebenfalls Musiktherapeut und Mitglied des Ateliers für Kulturmorphologie. "Unser Ziel ist es, die immer stärker technisierte und standardisierte Diagnostik im klinischen Alltag wieder zu öffnen für eine individuelle, am einzelnen Patienten und seinem wirklichen Erleben orientierte Einschätzung seiner Situation." Durch die Einführung der sogenannten ICD-Codierung (statistische Klassifikation von Krankheiten), mit der heute weltweit einheitlich diagnostizierte Krankheiten – auch in der Psychotherapie – kategorisiert würden, gehe immer mehr die Möglichkeit verloren, als Therapeut den Menschen in seinem ganzheitlichen Verhalten zu verstehen.

Individuelle Therapie

"Der Therapeut sucht beim Patienten immer häufiger nur die Symptome, die zum ICD-Code passen", so Mömesheim. Dann habe er seine Diagnose. Anstatt das gesamte Verhalten des Patienten "zu entdecken", es durch Rekonstruktion in seiner ganzen Komplexheit zu entschlüsseln, um dann daraus das immer individuelle Diagnosebild und die sich daraus ableitende individuelle, auf ihn abgestimmte Therapie zu entwickeln.

Damit geht es für das Atelier für Kulturmorphologie bei dieser Tagung um nicht weniger als die Wiederentdeckung der Menschlichkeit – im Gegensatz zur fortschreitenden Standardisierung und Simplifizierung – in der klinischen Psychologie geht.