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Hildegard Müller, Präsidentin des Autoindustrieverbands VDA, sieht Deutschland und die EU im Rückstand – nicht nur beim Zugang zu Rohstoffen. Unternehmen fragten sich, ob Deutschland noch der richtige Standort sei.

Die deutsche Autoindustrie bekommt zunehmend Konkurrenz aus China. Hildegard Müller, Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie, spricht über den Wettbewerb in der Branche.

 

Frau Müller, früher hat man die chinesische Autoindustrie in Deutschland nicht wirklich ernst genommen, mittlerweile hat sie ihre Fahrzeuge aber deutlich verbessert und will sie nun auch in Deutschland und Europa verkaufen. Werden sie sich hier namhafte Marktanteile verschaffen können?

Wir brauchen uns mit unseren Produkten sicher nicht zu verstecken. Natürlich nehmen wir den Wettbewerb trotzdem ernst – und als Ansporn. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind hier ein entscheidender Faktor. Andere Regionen sind industriepolitisch gerade sehr aktiv, unterstützen die lokalen Hersteller massiv. Sei es bei der Ansiedlung von Halbleiter- oder Batteriefabriken oder auch in der Form von Kaufprämien bei E-Autos. Deutschland kürzt beziehungsweise beendet den Umweltbonus, während Energie und Rohstoffpreise steigen.

Was bedeutet das?

Es ist ein falsches, potenziell folgenreiches Signal – vor allem für die Verbraucher und Verbraucherinnen. Der internationale, knallharte Standortwettbewerb muss in Berlin und Brüssel zu einem Umdenken führen. Ohne ein ambitioniertes Programm für Wettbewerbsfähigkeit und Standort drohen wir global dauerhaft den Anschluss zu verlieren – mit Folgen für Wohlstand, Arbeitsplätze und Relevanz.

Was muss geschehen?

Wir waren bisher zum Beispiel daran gewöhnt, alles, was wir brauchen, jederzeit auf dem Weltmarkt ausreichend besorgen zu können. Das hat sich grundlegend geändert. Der Zugang zu Energie, Rohstoffen und Vorprodukten ist längst zu einer Schlüsselfrage im internationalen Wettbewerb geworden. Wir reden schon viel zu lange über eine Afrikastrategie – während andere Länder sich Zugänge und Partnerschaften vertraglich absichern. Das führt dazu, dass wir beispielsweise einen Teil der Rohstoffe für das E-Auto in China beschaffen – Rohstoffe, die China in Afrika kauft und zudem oft lokal weiterverarbeitet. Fakt ist also: Wir müssen uns wirtschaftspolitisch aktiver aufstellen und globale Wettbewerbsfähigkeit sichern. Es rächt sich heute, dass wir unsere Versorgung nicht ausreichend – zum Beispiel über Handelsabkommen – abgesichert haben. TTIP sieht man heute als verpasste Chance. Dass wir nun endlich mit Kanada das Handelsabkommen Ceta ratifiziert haben, kann nur ein erster Schritt sein. Berlin und Brüssel verspielen Zeit, die wir nicht haben.

Was steht auf dem Spiel?

Wenn wir bei Themen wie dem Zugang zu Rohstoffen, der Versorgung mit erneuerbaren Energien sowie Handelspartnerschaften nicht schnell und entschlossen vorangehen, ist der Industriestandort ernsthaft gefährdet. Die bisher starke Wirtschaft kann dann kein Wohlstandsgarant mehr sein.

Die Energiekosten für Industrie und Verbraucher steigen dramatisch. Wie kann diese Entwicklung umgekehrt werden?

Die bittere Wahrheit ist zudem ja auch, dass Deutschland aktuell im europäischen Vergleich eine der klimaschädlichsten Stromerzeugungen hat. Wir steigen aus der Kernkraft aus, ohne ausreichende entsprechende Alternativen aufzubauen oder zu erschließen. Ein Beispiel: Wir beziehen Fracking-Gas aus den USA, schließen die Option bei uns aber aus. Können wir bei so einer Haltung bleiben? Insgesamt ist es jetzt entscheidend, unsere Energieversorgung langfristig zu sichern und wettbewerbsfähige Preise zu garantieren. Dafür fehlt bisher eine Strategie.

Welche Schritte müssen folgen?

Berlin und Brüssel müssen deutlich aktiver agieren, konsequent internationale Energiepartnerschaften abschließen. Weltweit werden derzeit viele Flächen verteilt – und viel zu oft sind wir nicht dabei. Die Folgen dieser Unentschlossenheit werden jetzt langsam deutlicher – schlagen sich in Verfügbarkeiten und Kosten nieder. Deswegen braucht es hier jetzt maximales Tempo.

Deutschland war ja nie der billigste Wirtschaftsraum, hat aber durch Innovationen und fortschrittliche Technologien Nachteile wettgemacht. Welchen Stellenwert hat das in diesen Zeiten?

Wir haben nach wie vor einen sehr starken kreativen Mittelstand. Damit können wir viele Nachteile bei den Kosten wettmachen. Damit sich die Kraft dieser Branche wirklich entfalten kann, müssen unser Steuersystem wieder konkurrenzfähig, unsere Genehmigungsverfahren digitaler, einfacher und schneller werden. Belastungsmoratorien müssen nicht nur angekündigt, sondern auch umgesetzt werden. Gleiches gilt für Bürokratieabbau. Auch die politische Denkweise hat Reformbedarf.

Welche Einstellung wäre nötig?

Fortschritt basiert auf Ideenreichtum und Risikobereitschaft – eine Mentalität, die zunehmend gehemmt und reguliert, statt gefördert wird. Wir stehen vor globalen Herausforderungen und beobachten, dass andere Wirtschaftsräume aktuell damit tatsächlich besser umgehen als Deutschland und die EU.

Welche Wirtschaftsräume meinen Sie?

China bringt seine Autoindustrie mit massiver Förderung voran, die USA ziehen mit tiefgreifenden Standortprogrammen nach. Sie schließen unermüdlich Rohstoff- und Energieabkommen ab, stärken ihre Wettbewerbsfähigkeit. Gemessen daran sind Europa und Deutschland nicht nur in der Umsetzung zu langsam, sondern auch bei der Erkenntnis noch im Rückstand.

Die Begrenzung der Erderwärmung ist ja ein globales Ziel. Welchen Einfluss hat Deutschland auf dessen Erreichung?

Das Ziel der Klimaneutralität teilen wir alle. Die Autoindustrie investiert hier Rekordsummen und treibt den Wandel voran. Zugleich gilt: Um die Mission Klimaneutralität global zu meistern, muss unsere Transformation weltweit als Erfolg gesehen und kopiert werden. Das wird nur passieren, wenn wir dabei wirtschaftlich erfolgreich sind. In anderen Worten: Klima- und Transformationspolitik müssen zugleich Wirtschafts-, Wohlstands- und Jobmotor sein. Unser Ansatz ist dabei zu eng.

Was machen andere Weltregionen besser?

Andere Weltregionen ermöglichen einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Technologien, in dem sich die kreativsten Ideen durchsetzen. Wir dagegen beschränken und regulieren die Möglichkeiten der Wirtschaft und potenzieller Zukunftstechnologien. Das ist kontraproduktiv: Richtig wäre es, die Unternehmen und ihre Ideen zu entfesseln und Innovation zu ermöglichen, statt die Industrie in ein Korsett zu zwingen.

Gibt es bereits Abwanderungsentwicklungen von Deutschland in andere Wirtschaftsregionen?

Die Folgen dieser Politik zeigen sich derzeit noch nicht an der Entwicklung der Arbeitsplatzzahlen. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass wir einen Fachkräftemangel haben. Aber: Es gibt Tendenzen zu Jobverlagerungen in andere Länder. Ich höre im Gespräch mit Unternehmerinnen und Unternehmern immer wieder die Frage, ob Deutschland in der Gesamtbetrachtung eigentlich noch der Standort ist, dem sie ihr Vertrauen schenken können. Man muss sagen, dass die Lage der Industrie schlechter ist als die Stimmung. Und das will in diesen Zeiten etwas heißen.

Hildegard Müller

Ausbildung
Hildegard Müller wurde am 29. Juni 1967 geboren. Von 1987 bis 1989 macht sie eine Ausbildung zur Bankkauffrau, anschließend studiert sie bis 1994 Betriebswirtschaft.

Berufliches
 Von 1995 an ist Müller als Abteilungsdirektorin bei der Dresdner Bank tätig. 2005 wird sie Staatsministerin bei der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel. 2008 wird sie Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft, 2016 wechselt sie als Managerin zum Essener Energieunternehmen Innogy. Seit Februar 2020 ist Hildegard Müller Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA).