Dreißig Jahre nach den Dreharbeiten zu „Schlafes Bruder“ erinnert sich der Schauspieler André Eisermann an wüste Zeiten.
Mit „Kasper Hauser“ und „Schlafes Bruder“ feierte André Eisermann in den 1990er Jahren große Kinoerfolge. „Schlafes Bruder“ wurde sogar für den Golden Globe nominiert. 30 Jahre nach den extremen Dreharbeiten im Garneratal bei Gaschurn kehrte Eisermann jetzt ins Montafon zu einem Erinnerungsabend zurück.
Welche Bedeutung hatte der Film „Schlafes Bruder“ für ihre Karriere?
Wenn man als junger Schauspieler mit 28 Jahren einen großen Film dreht, hat das natürlich eine große Bedeutung. Schon meine Rolle als Kasper Hauser hatte dazu geführt, dass sich mein Leben geändert hat. Mit „Schlafes Bruder“ galt ich dann als noch verrückter. Es wurden gleich so Kinski-Vergleiche geschlossen. Da musst du erst mal mit umgehen lernen.
Ist Ihnen etwas Besonderes in Erinnerung von den Dreharbeiten?
Der Geruch! Den rieche ich heute noch. Als ich jetzt nach 30 Jahren wieder in Gaschurn auf dem Balkon saß, da habe ich es wieder gerochen: diese Wiesen, diese Berge. Es riecht so, als wenn Sie in einem Blumentopf oder in der Erde selbst wären. So war das schon damals.
Eine große Bedeutung in „Schlafes Bruder“ hat das Orgelspiel. Haben Sie seither noch mal Orgel gespielt?
Nein, nein. Ich hab‘ auch damals nicht wirklich Orgel gespielt. Ich hab‘ in einer Musikschule das Instrument kennen gelernt. Und im Nachbardorf Gortipohl gibt es eine kleine Kirche, für die hatte ich einen Schlüssel. Da durfte ich nachts rein, und manchmal saß ich da sieben Stunden zum Üben und einfach Nachempfinden, wie es ist, wenn man an diesem Instrument die Tasten drückt. Oder was mit einem passiert, wenn man ein Register zieht. Das hat mir für den Film viel gebracht. Vor allem mit den Füßen muss man virtuos sein. Das Orgelspiel überschlägt sich, das überdreht sich, das musst Du üben.
Der Drehort von „Schlafes Bruder“ liegt in den Bergen. Es hat oft geregnet, die Leute am Set wateten durch Matsch und Schnee, der Bach war eiskalt. Es wurde eigens ein Dorf gebaut, was dann abbrannte. Was macht das mit einem?
Dieser Film hat mir sehr viel abverlangt. Ich musste um vier Uhr aufstehen und als Erstes in die Maske. Mit 16 Millionen D-Mark war das damals eines der teuersten Filmprojekte in Deutschland. Wenn Du da mitverantwortlich bist, dass es gelingt, belastet das. Und Josef Vilsmaier war ein Urgestein. Das war kein Regisseur, der dir feinfühlige Dinge näherbringen will. Jede Naturkatastrophe, die man da oben im Garneratal erleben kann – ob Lawine, Schlamm, Erdrutsch oder abgebranntes Dorf – ist nichts gegen Vilsmaier und seine Naturgewalt. Er war rabiat und es gab öfter Reibung. Für einen so sensiblen Menschen wie mich war das nicht leicht damals.
Wie haben Sie trotzdem durchgehalten?
Es gab Abende, wo der Vilsmaier zu mir sagte: „Wenn du es morgen nicht bringst, müssen wir dich umbesetzen.“ Zum Glück hatte ich einen schwulen Garderobier aus Wien, der sagte zu mir im Wiener Schmäh: „No da göh her, dann gibst‘ halt den romantischen Liebhaber.“ Der Typ hat mir das Leben gerettet. Erst später habe ich mich mit Vilsmaier richtig gut verstanden. Ben Becker saß schon immer bis 5 Uhr früh an der Bar und trank Schnaps mit ihm. Ich musste erst lernen, die Sünden mitzumachen.
Sie konnten sich ja auch nicht allein auf „Schlafes Bruder“ konzentrieren …
Nebenbei hatte ich noch am Hamburger Thalia Theater ein Engagement und hatte da eine Vorstellung nach der anderen vom Intendanten Jürgen Flimm auf den Spielplan gesetzt bekommen. Als die Premiere von „Schlafes Bruder“ in Gaschurn vor 6000 Zuschauern stattfand, hat mich Flimm nicht rausgelassen aus dem Thalia, und ich musste in Hamburg eine Nachmittagsvorstellung geben. Das ist das Traurige an unserem Beruf, dass man auch mit Leuten zusammenarbeiten muss, die gerne ihre Macht ausüben.
Sie haben ein spezielles Verhältnis zu Musicals. Wie kam es dazu?
Ich war als kleines Kind immer auf Jahrmärkten. Da gab‘s Schaubuden. Da wurden Doppelmenschen vorgeführt oder Mäuseschlucker. Es gab eine Bude, die hieß Hamptons Filmmarionetten und hatte die Liza Minelli als Puppe. Die sang aus „Cabaret“: „Bye bye mein lieber Herr“. Diese Minelli-Puppe klimperte dabei mit ihren Holzaugen. Das hat mich als Kind völlig fasziniert. Ich fing dann an, die Minelli zu parodieren. Schon mit 13 Jahren bin ich als Liza Minelli durch die Discos getingelt. Mein Vater sagte noch: „Hör damit auf, die denken alle, du bist ein warmer Bruder.“ Zehn Jahre später bin ich ihr dann tatsächlich in die Deutschlandhalle in Berlin begegnet. Daraus hat sich eine Freundschaft entwickelt, die bis heute hält. Ich habe dann selbst Musicals gespielt, auch „Cabaret“ in Wien im Theater in der Josefstadt. So schließen sich Kreise. So ist das Immer im Leben.
Wie kamen Sie zur Rolle des Elias?
Ich habe nachts bei Vilsmaier angerufen und gesagt: „Gott will, dass ich den Elias spiele!“ Vilsmaier antwortete: „Wer sind Sie denn überhaupt? Sind Sie wahnsinnig?“ Ich antwortete: „Ja, ich bin André Eisermann und ich weiß, ich muss das spielen.“ Daraufhin hat er mich zum Casting eingeladen und genommen.
Sie haben sich in einem Interview mal als Zirkuspferd bezeichnet. Sehen Sie sich wirklich so?
Nein, nein. Aber ein Zirkuspferd leistet Schwerstarbeit. Und wenn man zwei Stunden lang Goethes „Werther“ liest, ist das literarische Schwerstarbeit. Da bin ich hinterher fix und fertig und schon nach 45 Minuten nass geschwitzt. 250 Jahre danach kann ich den „Werther“ doch nicht einfach irgendwie vorlesen. Da bekommen die Leute von mir „Werthers Echte“ zu lutschen, und ich mach‘ daraus eine Spoken Word Performance. Das Ganze nenne ich „Goethe, Werther, Eisermann“.
Sie sind als Kind in einer Schaustellerfamilie aufgewachsen. Fluch und Segen zugleich?
Es war nicht immer leicht, so mit 220 Schulwechseln. Auf der Schauspielschule war ich natürlich nicht so strukturiert wie die Abiturienten. Ich war anders und wild, halt ohne Abitur. Aber ich frage gar nicht danach. Ich nehme einfach wahr, wo ich heute bin. Alles steht und fällt mit der Wahrnehmung. Wir alle sind in unseren Körper eingeboren. Der Körper ist der Garten. Dorthinein setzt Gott den Menschen. Wenn ich in diese Schaustellerfamilie eingeboren wurde, hatte es einen Sinn, weil Gott es so wollte.
Waren ihre Eltern als Schausteller auch auf dem Cannstatter Wasen?
Wir waren oft beim Frühlings- und beim Volksfest. Und da gibt es die Schwester Gertraud Gerhard. Sie ist Diakonissenschwester und hat auf Schaustellerkinder aufgepasst. Während unsere Eltern arbeiten mussten, hat sie uns mit in einen Hort genommen. Da konnten wir basteln, Kakao trinken, und sie hat uns mit der Gitarre Geschichten erzählt von Hiob und Noahs Arche. Schwester Gertraud hat mich mit Jesus Christus bekannt gemacht, als ich sechs Jahre alt war. Das verbindet mich am allermeisten mit Stuttgart. Und das verbindet mich mit ihr bis heute. Sie lebt noch. Sie ist mein Guru. Sie schickt mir noch heute Bibel-Lesezettel, jeden Sonntag sogenannte Hoffnungsworte, und an Advent immer einen Kalender mit Bibelsprüchen.
Haben Sie noch geheime Pläne?
Wie „Kaspar Hauser“ 1993 ins Kino kam und ich danach in Frankreich war, da hat das Nachrichtenmagazin „Le Nouvel Observateur“ getitelt: „André Eisermann, le fou de dieux“ – also: der Narr Gottes. So werde ich mein neues Buch nennen, das ich gerade über den Teufel schreibe. Ich werde es aber einschließen, und wenn ich nicht mehr lebe, wird es sicher jemand ernst nehmen und veröffentlichen.
Der Schauspieler und sein Film
Biografie
André Eisermann, Jahrgang 1967, begann nach seiner Ausbildung als Schauspieler eine Theaterkarriere in München, Wien und Hamburg. Ab 1991 trat er auch in Kino- und Fernsehfilmen auf. Seine zunächst wichtigsten Rollen: 1993 in „Kaspar Hauser“ und 1995 in „Schlafes Bruder“.
Film
Joseph Vilsmaier verfilmte 1994/95 den Roman „Schlafes Bruder“ von Robert Schneider über den Bauernbub Elias und seine existenzielle Beziehung zur Musik.